WENN RENTNER FÜRS START-UP BACKEN

Karottenkuchen, Karottenkuchen, Karottenkuchen. Wenn Oma Josefine heute am frühen Nachmittag hier rausgehen wird, wird sie neun Karottenkuchen gebacken haben. Das verrät ihr jetzt, um elf Uhr, ihre Backliste. Letzte Woche waren es jeden Tag zehn. Die Backliste hat sie von Katrin und Katharina vorgelegt bekommen. Die Mädchen sind Mitte zwanzig und könnten ihre Enkelinnen sein. Sind sie aber nicht. Oma Josefine ist 69. Sie weiß, sie wird heute nach der Arbeit wieder „richtig happy“ sein. „Eigentlich bin ich das jetzt schon die ganze Zeit.“ Trotz Gelber Rüben. Josefine trägt eine rosa Schürze, in die ihr Name gestickt ist, und ein rosa Oberteil. Vor ihr: eine rosa Waage und eine Schüssel, in der sich die Eierschalen türmen. „35 habe ich heute schon gekillt. 15 kommen noch.“
Josefine backt mit anderen Rentnerinnen und Rentnern in der Münchner Konditorei „Kuchentratsch“. Das Gebäude versteckt sich in einem unscheinbaren Münchner Hinterhof, unweit des Bahnhofs. Nur ein kleines Schild deutet draußen auf sein Innenleben hin. Ein reges und süßes. Die bessere Visitenkarte ist aber der Duft. Der ganze Innenhof riecht nach warmem Rührteig.
Zwei Freundinnen fanden: Nirgendwo gibt’s so guten Kuchen wie bei Oma.
Katharina Mayer, 28 Jahre alt, hat damals mit ihrer Freundin Katrin Blaschke, 28, die heute aus persönlichen Gründen nicht mehr dabei ist, das kleine Unternehmen gegründet. Katharina ist gelernte Hotelfachfrau und hat Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Sozial- und Gesundheitsmanagement in Innsbruck studiert. Katrin hat – ebenfalls dort – Kommunikation und IT studiert. Die beiden waren der Meinung, nirgendwo in der Stadt gäbe es so guten Kuchen, wie zu Hause bei ihren Omas. Das sollte sich ändern. Katharina: „Außerdem haben wir gemerkt, dass es für unsere Omas gar nicht so leicht war, Anschluss zu finden, während aber beide eben gerne backten.“
Ging es nicht anderen Großeltern ähnlich? Und warum überhaupt sollten sie zu Hause herumsitzen, wenn sie doch mit etwas, das ihnen gefällt, ihre Rentenkasse aufbessern könnten. Die Freundinnen gründeten also Kuchentratsch und beschäftigen Rentner auf Minijobbasis. Die können sich bis zu 450 Euro im Monat dazuverdienen. Ihre Stundenzahl wählen sie frei.
Damit der Laden läuft und die Bestellungen eingehalten werden, gibt es einen Dienstplan. Bestellt wird via Internet. Da gibt’s zum Beispiel Oma Inges Russischen Zupfkuchen, Opa Norberts Käsekuchen, der als „saftiges Kuchenglück aus Kindheitstagen“ angekündigt wird, mit „frischem Quark, Schmand und einem Hauch Vanille auf einem knusprigen Mürbteigboden und Beeren“; den versunkenen, saftigen Apfelkuchen von Oma Margit; oder „den passenden Begleiter für je- den Anlass“: Oma Elfis Aprikosenkuchen. Lieferopa Hans fährt durch München, um die Kuchen in Cafés, Firmen oder bei Privatpersonen abzugeben. Wer nicht im Stadtgebiet wohnt, kann sich Opa Norberts Käsekuchen, Oma Irmgards Karottenkuchen und Oma Josefines Apfel-Cranberrykuchen senden lassen.
„Lieber backen als Staubsaugen.“
Der Lieferopa ist nicht der einzige Mann. Es gibt noch Spülopa Thomas und zwei Backopas. Einer davon ist heute da. Gerd. Er ist 71 und sein Motto lautet: „Lieber Backen als zu Hause Staubsaugen.“ Auch er kann mit einem Enkelkind punkten. Und mit seiner Küchenexpertise. Man sieht, wie routiniert er die drei Apfelkuchen vor sich mit Äpfeln bestückt.
Gerd kennt nicht nur Küchen in Genf, Zermatt, Lausanne, Bern, Locarno und Arosa bestens, sondern auch Münchner. In- und auswendig kennt er die im Grand Hotel Bayerischer Hof und von Feinkost Käfer. Als diplomierter Küchenmeister musste er kühlen Kopf bewahren, wenn es im Bayerischen Hof hoch herging. „2000 bis 2500 Essen am Tag, 18 Bankett-Räume, Tag und Nacht wurde gearbeitet.“ 120 Köche musste er koordinieren. Er schmunzelt und sagt: „Das hier ist wie Urlaub.“ Wenn es hier hoch hergeht, backt er 15 Kuchen. Auch die Zeiten sind entspannt. Gerd kommt am Montag, Mittwoch und Freitag um 9.30 Uhr und ist vier bis fünf Stunden da. Manchmal zeigt er den Frauen auch ein paar Küchentricks. Gerd hat einen besonderen Kuchen mit ins Sortiment gebracht, eine „Liebeserklärung an den Herbst – frische Birne trifft auf Lavendel und Walnüsse.“ Das Terrain: Rührteigboden.
Die Oma in Rosa, Josefine, kann sich noch gut daran erinnern, als sie in ihre Rente startete. Sie hatte als Beraterin im Personalwesen eines Arbeitgeberverbands gearbeitet, ein Job, der ihr meistens Freude bereitete. Dennoch freute sie sich auf ihren Ruhestand. „Erstmal ist mir bewusst geworden, dass der Wecker nicht mehr jeden Tag um 6.30 Uhr klingelt. Dass ich keine Vorschriften mehr zu befolgen habe. Drei Jahre lang habe ich das genossen, dann ist mir langweilig geworden“, erzählt sie auf Bayerisch. Sie wollte etwas tun. Aber nur etwas, was ihr Spaß machte. Und die Rente aufzubessern, war auch kein schlechter Gedanke. „In München braucht man eine hohe Rente.“ Josefine sah im Fernsehen einen Beitrag über Kuchentratsch, rief am nächsten Tag dort an und wurde direkt zum Probebacken eingeladen. Sie hat sich bewährt.
Regional, saisonal, biologisch
Zwischen 40 und 50 Kuchen produzieren die Rentner täglich. Das Team variiert ständig, je nachdem, wer Zeit hat. Mindestens fünf Personen von aktuell rund 25 sind immer da. Maxi Gassmann ist 26 Jahre alt und seit kurzem Betriebsleiterin. Sie koordiniert die Bestellungen und schaut, dass alle Geräte funktionieren und alle Zutaten da sind. Die sind größtenteils regional, saisonal und biologisch. Die großen Plastikbehälter im Regal sind gefüllt mit Nüssen, Mehl, Zucker, Rosinen…
Bis jetzt wurde fröhlich geratscht, die Anzahl der Enkelkinder durchgegeben, über Familie und die frühere Arbeit gesprochen, über Josefines Mann, der auswandern wollte. Aber maximal bis nach Bad Tölz auswandern durfte – Josefine wollte nie weg aus Oberbayern. „Aber heute ist die Welt ja klein.“ Die anderen nicken.
Maria Anna verwandelt die Backstube in eine Bühne. Ihre Bühne.
Mittlerweile stehen vor jedem ein paar mit Kuchenmasse gefüllte Kuchenformen. Beginnt nun der Kampf um die Backöfen? Es gibt neun davon. Alle Backomas und Backopas sind ganz heiß darauf, für ihre Kreationen ein Plätzchen zu ergattern. Da holt die 68-jährige Maria Anna tief Luft. Kippt jetzt die Stimmung? Bitte nicht herumbrüllen… Aber nein. Maria Anna schmettert vom tiefsten Punkt ihres Zwerchfells heraus ein Lied. Aus dem Musical Westside Story. Die Küche verwandelt sich in ihre Bühne, theatralisch reißt sie die Arme mit dem Teigschaber zur Seite, die Schürze fliegt nach oben. Applaus.
In gewähltem Hochdeutsch erklärt nun die Dame, die in Baden-Württemberg aufgewachsen ist: „Ich habe mich im Mezzosopran ausbilden lassen.“ Dann packt sie ihren Werdegang aus: Englischstudium, mit 24 die Tochter, Arbeit als freiberufliche Dolmetscherin: Landgericht München I und II, Stadelheim. Sie guckt fragend, klar oder? „Was ich da alles mitbekommen habe!“ Dann eine internationale Personalberatungsfirma – „ich war zuständig für Nordafrika“. Von ihrem Diplomingenieur trennte sie sich. „Ich bin so ’ne 68erin. Doch die Männer werden immer besser: Mein Ex hätte nie ’nen Kinderwagen geschoben.“
Love is in the air…
Leider hat Maria Annas berufliche Selbstständigkeit nur zu einer Minirente geführt. Jetzt gibt sie neben dem Backen Englisch- und Deutschunterricht. Alles gut, sie lacht, wispert: „Ich bin frisch verliiieebt. Mal schauen, ob’s was wird. Bisher schreiben wir uns nur Mails.“ Ihr Finger wandert vor den Mund. „Top secret.“
Josefine, die Social-Media-Beauftragte, bloggt auf der Kuchentratsch- Seite. „Ich war schon immer ein Technikfreak und schreibe meinen Freundinnen auf Facebook und WhatsApp.“ Frauen, die sie über einen Chat einer Seite über hauswirtschaftliche The- men kennen gelernt hat. Soziale Medien? Maria Anna raunzt: „So ein Trallala lehne ich ab.“
Küchentratsch gibt es seit März 2015. „Etwa dreieinhalb Jahre, sagt man, braucht ein Start-up, um finanziell gut dazustehen“, erklärt Katharina. Steht es gut da? Das Team ist zufrieden. Sie ist stolz darauf, dass sie das Geld für ihr Business komplett aus einer Crowdfunding-Kampagne auf der Internetplattform Startnext generieren konnten und nicht in den eigenen, noch kleinen Geldbeutel greifen mussten, auch keinen Kredit aufnehmen. 381 Freiwillige haben ihre Idee mit Spenden auf der Plattform unterstützt. 24 630 Euro kamen zusammen. Damit haben sie ihre persönlich gesetzte Zielmarke, die sogenannte Fundingschwelle, überschritten. Die lag bei 23.000 Euro. Geräte für die Küche und Miete waren damit kein Hindernis mehr. Eine Hürde dagegen: die Eintragung in die Handwerksrolle. Dazu mussten die Bäckerinnung und die IHK zustimmen und die Gründerinnen eine Prüfung in Theorie und Praxis ablegen – sie waren schließlich keine ausgebildeten Konditoren. Genauso wenig ihr Personal. Hat aber alles geklappt.
Nun sind die Kuchen weggeräumt. Katharina stellt Curry auf den Tisch. Essen! Alle scharen sich darum und plappern. Heute wurden drei vegane Kuchen gebacken. Josefine wirft in die Runde: „Ich habe dafür nur bedingt Verständnis, weil das kein Oma-Kuchen ist.“ Zwetschgenkuchen, Zupfkuchen, das ist ihre Welt. Sagt sie und schiebt sich genüsslich einen Löffel Thai-Curry in den Mund.
Info:
Ein großes „Kuchenglück“ (28 cm) kostet 34,90 Euro, ein kleines (16 cm) 19,90 Euro, zzgl. Lieferung. Selbstabholung ist auch möglich. Mitbacken können talentierte Rentner mit Gesundheitszeugnis.
www.kuchentratsch.com