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Übern Berg

Samstag, 7 Uhr, an einem leeren Bahnsteig, Mitte Juli. Gleich soll der Zug kommen, der mich nach Pfronten im Allgäu bringt. Von dort aus will ich auf der alten Römerstraße, der Via Claudia Augusta, die eigentlich von Donauwörth nach Venedig führt, an den Gardasee radeln. Es ist frisch, der Himmel azurblau. Später werde ich erfahren: der heißeste Tag des Jahres. Jetzt aber warte ich mit Rad und Sturzhelm, fühle den Reiz des Ungewissen. Was werde ich erleben? Werde ich abbrechen müssen? Mein Hintern steckt in einer gepolsterten, knallengen Radlerhose unter den Shorts. Habe ich etwas vergessen? Möglich. Ich habe mir ja kein leichtes Rad gekauft, um das beim Gepäck wieder zunichte zu machen. Mitreisen dürfen: Zahnputz- und Waschzeug, Flipflops, Unterwäsche, Regenjacke, Bikini, Handtuch, Handy, Geld, „Rei in der Tube“, Reiseführer, Melkfett. Und ein knitterfreies Kleid. Nimm Flickzeug mit, Ersatzschlauch! Ich ließ mich berieseln und ließ es zuhause. Im Ernstfall gibt’s das irgendwo. Im Ernstfall kriege ich mein Rad eh nicht selbst repariert. Im Glücksfall hilft mir jemand. 

Wie hat sich Kolumbus gefühlt, bevor er aufgebrochen ist ins wilde Meer, um versehentlich einen neuen Kontinent zu entdecken? Ok… Auf dem Boden bleiben. Ich fahre an einen Flecken Erde, den ich in und auswendig kenne, aus unzähligen Familienurlauben als Kind. Statt Gardasee sage ich lieber Lago di Garda: Sehnsucht. Ich werde nur fünf Tage unterwegs sein und es geht „nur“ über die Alpen. Immerhin aber über jene Mauer, hinter der sich für mich stets die Verheißung verbarg: in Form eines Stiefels, Spaghetti-Bergen, blauem Wasser, Palmen, Gelato und der Capri Sonne. Also ich dachte, dass die Sonne in Italien so heißt. 

Wie oft saßen wir vier Geschwister zusammen gepfercht im Auto auf der Straße Richtung Sonne, den Tony-Marshall-Hit schmetternd: „Auf der Straße nach Süden, der Sonne entgegen…“? Wie oft genoss ich es später, wenn im Zug der Schaffner nach München und Kufstein zum ersten Mal während seiner Durchsage Franzensfeste „Fortezza“ nannte, Brixen „Bressanone“ – mit schön langgezogenem s, und aus Bozen „Bolzano“ mit einem „ahhhhh“ machte? Wie oft bewunderte ich vom Flugzeugfenster aus im Hochsommer die weißen Spitzen der Dolomiten, die da lagen, als hätte jemand nur ein zerknülltes Taschentuch zwischen Italien und Deutschland fallen lassen. Diesmal wollte ich dieses knallharte Taschentuch – geschaffen vor 25 Millionen Jahren, als die afrikanische mit der europäischen Erdplatte zusammen stieß – nicht schnell überwinden. Sondern: Was in all den Tälern liegt, sehen, riechen, hören. Erleben, wie aus Deutschland Österreich wird, aus Österreich Südtirol und dann „richtig Italien“. 

Der Zug hält hundert Meter vor dem Bahnhof. Und dort bleibt er für die nächste Stunde liegen. Nachdem er wieder in Gang gesetzt ist, verpasse ich meinen Anschluss. Warten. Einziges T-Shirt mit Banane versaut. Umsteigen. Warten. Ankunft in Pfronten-Steinach um 12 Uhr. Mittagshitze. Tritt in die Pedale, die Kette springt runter. Dann radle ich tatsächlich los, hinein in die Berge. Entlang grüner Wiesen und dem glasklaren Lech, um kurz darauf in Österreich zu sein. 

Wie ein Gletscherbonbon: der Lech.

„Lasst uns reisen, um zu Reisen“, als Mitte des 18. Jahrhunderts – zur Zeit der Romantik – der Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer diesen Satz sagt, schütteln viele den Kopf. Warum sollte man freiwillig in unbequemen Kutschen über holprige Wege rumpeln und dunkle Wälder durchqueren? Bis dahin reisten Händler und Boten, Priester oder Pilger in Gottes Auftrag. Krieger waren unterwegs, Handwerker gingen auf die Walz, Entdecker und Forscher suchten neue Erkenntnisse. Wer genügend Geld und eine schlechte Gesundheit hatte, kurierte sich an Heilquellen wie im tschechischen Karlsbad oder belgischen Spa. Trotzdem war Schlözer damals nicht allein mit seiner neuen Ansicht. Viele Romantiker hatten die Überzivilisation satt und suchten eine bessere Welt. Eine Ursprünglichere. Der französische Philosoph Jean-Jaques Rousseau und der Botaniker Albrecht von Haller brachen auf: in die Alpen, die damals als hässlich und bedrohlich galten. Die beiden schrieben begeistert darüber.

Dem Fernpass nicht mehr fern…

Ich radle an wiederkauenden Kühen vorbei, durch Dörfer mit plätschernden Brunnen, in die gerade die Samstagnachmittagsruhe einkehrt, hier noch ein Traktor, da ein paar Radler. Rote Geranien an Holzbalkonen. Die Steigung Richtung Zugspitze ist kaum spürbar. Bis dann nach Lermoos „Fernpass“-Schilder auftauchen. Oh je! Einer, der drei Pässe, die ich auf der Via Claudia meistern muss, hoch auf 1270 Meter. Wie quälen sich doch immer die Autos die Serpentinen hoch… Und nun ich? Mit reiner Muskelkraft? Schnell noch ein Eis.

Auf Schotterkehren schraube ich mich den Waldhang hoch, schaue auf den Boden, trete gleichmäßig in die Pedale. Nach jeder Kehre entspannen sich die Muskeln leicht, um dann dem Programm weiter zu folgen. Gut, dass mich keiner hetzt. Mit den keuchenden Radlern vor und hinter mir solidarisiere ich mich im Geiste; die, die mich überholen, ignoriere ich. Wobei, krass! Zwei Rentner-Paare…

Die Römer haben ihre Spuren hinterlassen. Die Steine der Via Claudia treten an manchen Stellen in Vorschein.

Schließlich komme auch ich oben an – und blicke kurz darauf hinunter auf Schloss Fernstein und den türkisfarbenen See. Und entdecke Reste der alten Römerstraße. Bergab ins Gurgltal sind meine Bremsen gefordert. 

Dort unten liegt er, wie verwunschen: der Fernstein-See.

Imst. Die erste Pension ist gebucht, die anderen werde ich spontan suchen. Glücklich über meine rund 80 Kilometer und kaputt schlage ich mir beim Essen den Bauch mit Kässspatzen voll. Ach, und wer sitzt da am Nebentisch? Picobello gestylt, während ich über die tolle Leistungsfähigkeit meines Merino-Shirts nachdenke. Die beiden Rentner-Pärchen. Sie reden über ihre E-Bikes.  

In der heutigen, modernen Gesellschaft ist die Reise als Freizeitvergnügen selbstverständlich. Im letzten Jahrhundert hat sich die Überzeugung verfestigt: Der Mensch braucht eine Auszeit vom naturfernen Alltag, um ihn aushalten zu können. Viele arbeiten nur von Urlaub zu Urlaub. Für den Jump aus dem Alltag. Hier ein Wellness-Trip, da der Ski-Urlaub, über Ostern zum Wandern nach Mallorca, zehn Tage Cancun. Übers Wochenende in eine europäische Metropole zu fliegen: für viele wie Busfahren. Und kostet so viel wie die Bahnfahrt von Stuttgart nach München. Auch, weil das Kerosin noch immer nicht versteuert werden muss.

Nächster Morgen, ein Blick zum Himmel. Nur ein paar Kondensstreifen zerkratzen das unendliche Blau. In den Fliegern sitzen vielleicht Passagiere, die vor einer Viertelstunde in Stuttgart gestartet sind und gleich auf einer Piazza Pizza essen werden. Ich dagegen bin froh, dass es heute nur 50 Kilometer sind; mein Steißbein hat sich gemeldet. Sind Frauen-Radlerhosen weniger gepolstert als die von Männern? Aber ich habe Melkfett dabei. Die zweite Etappe führt durchs Inntal nach Landeck mit seinem Schloss. Ich lese Namen, die ich vom Skifahren kenne, Serfaus, Fiss und Ladis. Dann komme ich in Pfunds an, nachdem ich mich nachmittags am Rieder Badesee regeneriert habe.

Gibt es friedlichere Orte?

Fliegen hat einen Preis. Für die Umwelt. Stuttgart-Mallorca hin und zurück verursachen rund 450 Kilogramm CO2 pro Person, wie die Online-Plattform Atmosfair berechnet, die gegen Geld entsprechend des eigenen Ausstoßes Bäume pflanzt. Für die 450 Kilogramm könnte man 3000 Kilometer mit einem Mittelklassewagen fahren, sie machen ein Viertel des CO2-Budgets aus, das jeder Mensch pro Jahr verbrauchen dürfte.

Flüge machen zwar nicht einmal fünf Prozent der weltweiten Emissionen aus, doch sie richten im Himmel viel größere Schäden an. Atmosphärenforscher vermuten, dass der klimaschädliche Effekt des Flugverkehrs dem gesamten CO2-Ausstoß Indiens entspricht, dem drittgrößten Verursacher der Welt. Und der Flugverkehr nimmt zu: 2018 stiegen Menschen 4,3 Milliarden Mal in den Flieger. Allein sieben Prozent mehr als im Jahr zuvor. In immer mehr Ländern steigt die Reiselust. Beziehungsweise: Immer mehr können sich das Fliegen leisten. In China zum Beispiel. In Peking wird gerade der weltweit größte Flughafen gebaut. Er soll 2020 fertig sein. Nach genau 40 Monaten. Ende 2015 gab es in China bereits 264 Flughäfen – rund zehn Jahre davor „erst“ 196. Die Passagierzahlen in China wachsen jährlich um mehr als 200 Prozent. 

So furchtlos, wie es ausschaut, bin ich nicht… Großer Respekt vor dem legendären „Reschen“.

Am dritten Tag geht’s endlich nach Bella Italia. Ich fahre an immer enger beieinander stehenden Felswänden vorbei und durch viele Tunnel, hinter ins Drei-Länder-Eck Österreich-Schweiz-Italien, zur Zollstation Martina.

Ehrfurcht und Vorsicht. Gleich fräsen sich die Kehren des Passes ins Massiv.

Ich nehme den alten  Reschenpass in Angriff und sogleich meditativ eine Kehre nach der anderen. Wie schnell man doch Höhe machen kann! Es geht gleichmäßig bergauf. Kurios: Geht es jemand schlecht, wünscht man ihm, dass es bergauf geht. Mir ginge es definitiv besser, es ginge endlich bergab.

Was soll das, bitteschön?!

Mist. Man hatte mich gewarnt. Oben in Nauders, auf der Hochfläche, bläst mich mittags der Vinschger Wind – aus dem Südtiroler Vinschgau – fast um. Ich hätte früher los sollen. Während mir lächelnde Radler entgegen kommen, strample ich frustriert, bis… Da! Der Kirchturm, der aus dem See ragt. Der noch an das Dorf erinnert, das hier mal war.

Da ist er! Der Kirchturm, der noch offenbart, wo das versunkene Dorf liegt.

Schließlich sehe ich die grün-weiß-rote Flagge wehen, passiere die Grenze. Jetzt muss ich es nur noch rollen lassen, bis kurz vor dem Lago di Garda. Regen. Gar nichts lasse ich rollen. Ich trete bergab in die Pedale, Sturzbäche begleiten mich, überall läuft mir das Wasser rein. Italia, che bella! Was bin ich froh, als endlich ein Ort in Sicht ist: das mittelalterliche Dorf Glurns. Wie ein begossener Pudel stehe ich am Empfang des Hotels am Dorfplatz. Kein Zimmer, dann doch. Eines, das in den Sechzigern stecken geblieben ist. Schnell unter der Dusche, aufwärmen, Klamotten föhnen, unter die Decke. Hochgenuss!

Die Geschichte des Reisens war in Europa ein Akt der Demokratisierung und so auch ein Akt der Freiheit. Ausgelöst durch die Natursehnsucht der Romantiker, die auch Goethe nach Italien trieb, und die Bildungsreisen des 18. Jahrhunderts brechen im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen auf. Im Kaiserreich sind der Adel und das gehobene Bürgertum die ersten Touristen der Geschichte, etwa Kaiserin Sisi. Man macht Strandurlaub an den neuen Badeorten der Nord- und Ostsee, geht wandern und radeln, genießt das Nichtstun oder macht Kulturreisen nach Österreich, Italien und Frankreich. Erst ab der Weimarer Republik gibt’s bezahlte Urlaubstage für jedermann: meist drei bis sechs. Die Nazis wussten, wie sie punkten konnten und führten „Volksreisen“ ein. Als im Nachkriegsdeutschland der Wohlstand wächst, zieht es immer mehr Urlauber an Riviera, Adria und Cotê d’Azur. Dann kommen Spanien und seine Inseln dazu, denn Neckermann und TUI bieten erschwingliche Flüge an.

Incredibile! Il sole! Ich bin versöhnt mit dem schlechten Empfang meines Italiens.

Tag vier: Den ganzen Tag zuckle ich durch einen Endlos-Garten. Das Vinschgau ist gesäumt von Obstplantagen. Die Spritzmittel denke ich mir weg. Dann Zwischenstopp in Meran: Palmen und Palazzi neben Geranien und rustikalem Alpenbaustil.

Chillende Südtiroler Oma.

Am Ende des Tals thront Burg Sigmundskron; dahinter muss Bozen sein. Hier mündet das Vinschgau ins Etschtal, durch das sich die Autos und Wohnwagen vom Brenner Richtung Süden schieben. Ich wähle den Umweg über die Strada del Vino, die Weinstraße. Den Kalterer See will ich nämlich sehen, Kindheitserinnerungen. Eine Stunde verbringe ich bei Platzregen in einem Bushäuschen neben einem alten Südtiroler, der mir Stories aus seinem langen Leben erzählt.

Der Kalterer See. Nie habe ich als Kind gescheckt, warum „caldo“ ausgerechnet „warm“ bedeutet…

Was bleibt von den Aneinanderreihungen unserer Urlaube? Likes auf Instagram? Haben wir jedesmal Fernweh, wenn wir unsere Koffer packen? Oder versuchen wir durch diese Fast-Food-artigen Trips, unser Leben zu kompensieren – welches wir uns nicht zu ändern trauen? Was wäre, wenn wir die Muster hinter unseren Reiseentscheidungen hinterfragten: Was ist mir wirklich wichtig, was muss gar nicht sein? Fliegen, Zug, Bus, Schiff fahren, mit dem Hausboot, Rad oder laufen? Vielleicht fördert die Politik irgendwann umweltverträgliche Reiseformen, anstatt den Flugverkehr zu subventionieren. Wir aber können bereits wählen, ob wir nach Asien aufbrechen oder Ähnliches in Europa suchen. Ob wir dieses Jahr eine Fernreise machen und dann ein paar Jahre in der Nähe bleiben. Ob wir ein nachhaltiges Hotel wählen oder irgendeines. Wir können uns die Zeit nehmen und eine große Reise machen, statt vieler kleiner Trips – wieder Reisen im ursprünglichen Sinn, anstatt mal eben kurz weg zu sein. Romantiker begannen zu reisen, weil sie auf der Suche nach einer besseren Welt waren, während sie die Welt um sich herum als überzivilisiert empfanden. Heute sind wir übersättigt von Angeboten, kotzen sie aus wie Kleinkinder, in die unentwegt Brei gestopft wird. Wir können nun beginnen, besser zu reisen, damit die Welt bereisbar bleibt. 

Am Haus des Südtiroler Nationalhelden Andreas Hofer komme ich auch vorbei.

Ich bin voller Vorfreude, während ich in „Egna“, also Neumarkt, frühstücke. An der Hotelbar trinken Einheimische einen Kaffee und schnattern Sätze, die Italienisch beginnen und Deutsch enden. Und andersrum. Der Lago wirkt nah. Die Hymne der Südtiroler summend radle ich „der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus’“.

Jetzt geht’s dann nur noch durch ein Nadelöhr, die Salurner Klause. Die deutsch-italienische Sprachgrenze. Ab dann wird nur noch Italienisch gesprochen. „Arrivederci Südtirol! – „Benvenuto Trentino!“

Die von der Eiszeit geformten Felswände wirken wie Meeresklippen. Sie sind rötlicher als bei uns, der Wald darauf bläulich im Licht des Südens. Auf einigen stehen Burgen. Am Fuße der Klippen ducken sich Häuser mit flachen Ziegeldächern, aus deren Gemeinschaft ein offener Glockenturm heraus ragt. Die Autobahnschilder sind grün, die Leitblanken rostig, dazwischen blühen Oleanderhecken. Italien wird immer italienischer. In Trento genehmige ich mir neben dem wunderschönen Neptun-Brunnen auf der Piazza meinen ersten Spritz.

Ein kleiner Vorgeschmack der barock-ungezähmten italienischen Art, zu wissen, wie irdisch das Leben nunmal ist – wie wichtig es also ist, empfänglich für die Genüsse des Lebens zu sein.

Dann ein letzter Pass rüber zum Lago. Pippifax. 

Und dann stehe ich plötzlich an der Kuppe, in Nago. Knapp 400 Kilometer und 2180 Höhenmeter nach meinem Start in Deutschland. Unten die Dächer des Städtchens Torbole und: der ruhig vor sich hin glitzernde See. Die Alpen umarmen ihn noch rechts und links und öffnen sich im Süden, um ihn der Po-Ebene frei zu geben. Ich rolle los. Und fühle mich gelöst – und nicht, weil ich in dem Moment merke, dass nur noch eine Bremse geht. Ich bin übern Berg. 

Stolz. Stolz. Stolz.

Ganz nah dran und nach langer Suche gefunden. Und dann heißt es auch noch „Paradiso“, das Hotel.

Goethe war auch da:

Auch Goethe suchte im 18. Jahrhundert den Weg, in das Land, wo die Zitronen blühen. Und auch er kam über den kleinen Pass und war hin und weg von dem, was er da sah. Er schrieb am 12. September 1786 in sein Tagebuch: 

„Wie sehr wünschte ich meine Freunde einen Augenblick neben mich, dass sie sich der Aussicht freuen könnten, die vor mir liegt! Heute abend hätte ich können in Verona sein, aber es lag mir noch eine herrliche Naturwirkung an der Seite, ein köstliches Schauspiel, der Gardasee, den wollte ich nicht versäumen, und bin herrlich für meinen Umweg belohnt. Nach fünfen fuhr ich von Roveredo fort, ein Seitental hinauf, das seine Wasser noch in die Etsch gießt. Wenn man hinaufkommt, liegt ein ungeheurer Felsriegel hinten vor, über den man nach dem See hinunter muss. Hier zeigten sich die schönsten Kalkfelsen zu malerischen Studien. Wenn man hinabkommt, liegt ein Örtchen am nördlichen Ende des Sees und ist ein kleiner Hafen oder vielmehr Anfahrt daselbst, es heißt Torbole.“ Und dann weiter: „In der Abendkühle ging ich spazieren und befinde mich nun wirklich in einem neuen Lande, in einer ganz fremden Umgebung. Die Menschen leben ein nachlässiges Schlaraffenleben: erstlich haben die Türen keine Schlösser; der Wirt aber versicherte mir, ich könnte ganz ruhig sein, und wenn alles, was ich bei mir hätte, aus Diamanten bestünde; zweitens sind die Fenster mit Ölpapier statt Glasscheiben geschlossen; drittens fehlt eine höchst nötige Bequemlichkeit, so dass man dem Naturzustande hier ziemlich nahe kömmt.“ Und als Goethe den Wirt „nach einer gewissen Gelegenheit“ gefragt habe, antwortete der nur freundlich: Er könne sie „dappertutto“ verrichten – überall, wo er wolle. Italien im 18. Jahrhundert: Von der Zivilisation genauso wenig versaut, wie es sich die Romantiker als wünschten. 

Goethe war auch da – nur ist er nicht geradelt…