Close

WENN KINDER DEN KNIGGE LERNEN

Vor dem Hoteleingang warten ein Porsche und ein Mercedes; drinnen, in der Lobby, auf zwei Sofas gequetscht, Grundschulkinder und eine Fünfjährige. Eine stumme Schicksalsgemeinschaft. Der eine soll heute sein Kommunions-Geschenk einlösen, zwei Geschwisterpaare sind hier, weil der Anwaltspapa beim Frisörpapa war und sie während des Haareschneidens auf diese Idee gekommen sind. Mit Stuttgarter Akzent ruft jemand: „Mensch, sind wir heute alle kosmopolitisch!“ Gudrun Weichselgartner-Nopper – „wie Knoppers ohne k und s“ – formt eine ausladende Geste und nähert sich in Highheels. Sie ist braun gebrannt, trägt eine weiße Chiffon-Bluse und ihre Brille wird die ganze Zeit als Haarreif fungieren. Die Eltern der Kinder aus Stuttgart und Frankfurt stammen aus Brasilien, Italien, der Türkei, dem Iran und Deutschland. 

Der Kellner ist stets zu Diensten.

Ein junger Kellner verbeugt sich, stellt sich als stets zu Diensten vor und führt die Kinder die Hoteltreppe hinauf zur Garderobe. „Darf ich Ihre Jacke abnehmen, Madame?“ Die rosa Haarschleife mit rosa Handtasche und das goldene-Anker-Kleid mit Haarnetz über dem Dutt lernen „bittesehr“ und „dankesehr“ zu sagen, was sie schon leise können, und immer zu lächeln. „Wenn ihr lächelt, muss selbst der schlecht Gelaunteste freundlich zu euch sein und ihr seid zu fünfzig Prozent schöner!“ Dann betreten sie den Raum „Schlossgarten“: Holz getäfelte Wände, Kronleuchter, die Decke spiegelt alles. 

Wer sich souverän auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen will, muss das Einmaleins des guten Tons beherrschen, findet Gudrun Weichselgartner-Nopper. Wer die Regeln beherzige, gewönne schon als Kind leichter an Akzeptanz. Es geht ihr nicht „um absolute Anpassung gemäß Etikette sondern um ein altersgerechtes richtiges Benehmen, angenehme Umgangsformen, Höflichkeit und Rücksichtnahme“. Wer vieles als Kind automatisiert, tut sich später leichter, kann sich aufs Gespräch konzentrieren. Sie erzählt vom Freiherrn von  Knigge, dem vor 250 Jahren aufgefallen sei, „dass es immer die gleichen Menschen in einer Gruppe gibt, vom Boss bis zum Schüchternen.“ Er erstellte Regeln für einen gelingenden Umgang miteinander.

Mehr Möglichkeiten im Leben durch gutes Benehmen.

„Wenn ihr gut erzogen seid, loben das die Freunde eurer Eltern. Aber wer hat am meisten davon? Ihr! Wen will man zum Freund haben? Wer wird Klassensprecher? Ihr habt viel mehr Möglichkeiten.“ Beispiel Geburtstagseinladung: „Typ eins sagt lange nicht zu, kommt zu spät, macht sich am Buffet den Teller voll, isst nicht auf, fasst mit Schokofingern euer Spielzeug an, will immer gewinnen. Typ zwei, bespricht die Einladung mit seinen Eltern, sagt schnell zu, testet erst das Essen, nimmt sich mehr, wenn es ihm schmeckt, kann verlieren. Wen ladet ihr wieder ein?“  

Die Kinder sollen sich vorstellen, dass sie zu einer neuen Gruppe stoßen. Die fünfjährige Julie meldet sich: „Ich hatte dieselbe Erfahrung, als ich in den Kindi gewechselt bin!“ Gudrun Weichselgartner-Nopper ist entzückt. Um mit anderen ins Gespräch zu kommen, rät sie: „Sagt, wo ihr herkommt, ob ihr Geschwister habt, was eure Hobbies sind, was ihr werden wollt.“ Die Golf-, Tennis- und Klavierspielerin mit dem Dutt will Zahnärztin werden und steht zu breitbeinig da. Wird sofort korrigiert: „Die Beine schulterbreit öffnen, die Hände am besten auf Höhe des Bauchnabels; mit der Körperhaltung sagt ihr, dass ihr nett seid.“  Die pinke Schleife spielt Fußball und sieht sich als künftige Bauingenieurin, das weiße Hemd wird Fußballer. „Der Kaugummi muss raus.“ Das Hemd grinst verlegen; Der nächste wird Tierarzt und die Fünfjährige „Anwältin wie Mama und Opa“, sagt sie gedehnt. 

Glas am Stil halten, damit der Champagner nicht warm wird.

Beim Begrüßen sollen sie aufstehen – auf Augenhöhe sein, kraftvoller Händedruck. Überhaupt: Grüßen, grüßen, grüßen. Ob den Busfahrer, im Aufzug oder im Zugabteil. „Spielt die Kleidung eine Rolle?“ Die Fünfjährige sagt: „Nein, es geht um den Körper.“ Eigentlich schon, findet die Trainerin. „Damit zeigt sich, wie sich jemand sieht, wie er sein will. Schick, sportlich?“ Die Fünfjährige niest. Alle gucken fragend. „Unangenehme Geräusche kommentiert man nicht. Keine große Geschichte draus machen, auch wenn jemand pupst. Wo bleibt eigentlich unser Champagner?“

Wie gerufen, betritt „Stets-zu-Diensten“ mit einem Tablett den Raum. Stehempfang: Die Kinder greifen zu. „Warum hält man das Glas mit drei Fingern am Stil und nicht am Kelch?“ Stille. „Damit der Champagner nicht warm wird. Cheers! Beim Anstoßen in die Augen schauen!“ Jemand hält das Glas schief, eine Pfütze bildet sich auf dem Parkett. 

Paul und Chiara werden zu Gastgebern auserkoren. Chiara hat eingeladen, weil sie „Germany’s next Topmodel“ geworden ist, Paul wegen seines Tennissiegs. Sie halten eine Rede. Bevor es dann zu Tisch geht, verschwinden die Damen laut Etikette auf die Toilette, um sich nach zu schminken. 

Die Gastgeber werden in der Mitte der Tischreihe platziert, daneben die Gäste in abnehmender Wichtigkeit, Jungen und Mädchen abwechselnd. „Stühle bitte anheben!“ Dann muss jeder seinen Platz decken. Wo stehen Weiß-, Rotwein- und Wasserglas? Aufgepasst, Teller und Serviette eine Fingerbreite von der Tischkante; der Pretty-Woman-Moment beim Besteck: Von außen nach innen legen, entsprechend der Gänge. Brot- und  Wasserkellner werden bestimmt, dann halbieren alle ihre Serviette einmal durch Falten und lassen sie zum Bauchnabel hin geöffnet auf dem Schoß ruhen. Gastgeberin Chiara erhebt das Wort: „Für alle, die es nicht kennen: Es gibt eine Flädlesuppe aus geschnittenen Pfannkuchen in einer Brühe mit Kräutern und danach Spaghetti mit Tomatensauce.“ Vorweg Brötchen zum Bestreichen. Die Trainerin kretscht dazwischen: „Den Brotkorb nicht über den Nachbarteller reichen. Und auf dem Tisch sind nur die Handgelenke, keine Ellenbögen. Paul, hast du den Wein getestet?“ Ups. Der Kellner schenkt ein, Paul gibt sein Okay. Seine fünfjährige Schwester ruft: „Das ist Traubensaft, hähä! Weiß ich.“ 

Gudrun Weichselgartner-Nopper weist noch auf etwas Wichtiges hin: „Eure Jackets dürft ihr erst ausziehen, wenn der Gastgeber es tut. Und auch den Wein erst dann trinken. Wasser aber sofort.“ Als alle Suppe haben, wird eifrig gelöffelt. Die fünfjährige Julie gluckst: „Fabio schlürft!“ Weichselgartner-Nopper sagt: „Takt kennt die Wahrheit, aber nennt sie nicht“ und korrigiert Fabio. Wenn die Schüssel zwei Henkel habe, dürfe man sie auszutrinken. Leise. Die Fünfjährige legt ihren benutzten Löffel auf die Tischdecke. Faux-Pas…

Dann kommen die Spaghetti mit Tomatensauce, quasi die Goldprüfung der Etikette. Die Kinder drehen und drehen. Man schaut entweder beim Verhungern zu oder bei der Sauerei. „Macht Parmesan in die Nudeln, der ist wie Kleber“, rät die Expertin. Eigentlich aber, sollte man die doch aufsaugen dürfen. So schöne lange Schnüre! Hätte Herr Knigge Spaghetti gekannt, hätte er das sicher in sein Buch geschrieben.

 

Das sagt der Erziehungsexperte dazu:
Erziehungsexperte und Autor („Warum Raben die besseren Eltern sind“, 2003, GU-Verlag) Jan-Uwe Rogge erinnert an den Pädagogen aus dem 17. und 18. Jahrhundert  Johann H. Pestalozzi: „Erziehung ist Vorbild und Liebe.“ Werte und Normen sollten seiner Meinung nach im Alltag vermittelt und vorgelebt werden, in Familie, Kindergarten und Schule. „Höflichkeitskeitserziehung muss jeden Tag passieren und nicht einmal über einen Kurs erledigt werden. So ein Kurs kann Ergänzung sein. Eltern sollten Erziehung aber nicht grundsätzlich delegieren.“ Die Knigge-Regeln aus dem Kurs findet er für Kinder nicht alle gleich wichtig. „Elementar ist, dass ich den anderen ausreden lasse, ihm am Tisch die Schüssel reiche, im Bus einer älteren Person meine Platz anbiete, dass ich nach der Toilette die Hände wasche, dass gemeinsam Abend gegessen wird, keine Handys auf dem Tisch liegen…“ Sonstige Knigge-Regeln könnten die Kinder, Rogge zufolge, noch später lernen, fürs Berufsleben, vielleicht in einem Kurs. Rogge: „Aber Achtung: In Asien gibt es wieder ganz andere.“

„Eltern müssen Respekt und Achtung einfordern.“

Dass die Manieren von Kindern und Jugendlichen den Bach runter gehen, findet er keinesfalls. „Und mit diesem ,Früher-war-alles-besser` zu kommen, halte ich auch für falsch. Wann ist früher?“ Laissez-faire-Erziehung „geht nicht, die Eltern müssen Respekt und Achtung einfordern“, aber auch umgekehrt beides ihren Kindern entgegen bringen. „Erwachsene sind oft kein Vorbild. Etwa, wenn sie im Bus telefonieren oder beim Abendessen. Da sollte das Handy stumm geschaltet sein und woanders liegen.“

 

Info:

www.knigge-fuer-kids.de
Gudrun Weichselgartner-Nopper leitete eine Englisch-Sprachschule für Kinder, bevor sie 2008 begann, Knigge-Seminare für Kinder, Jugendliche und Berufsstarter anzubieten; Auslöser war die Wahl ihres Mannes zum Oberbürgermeister von Stuttgart-Backnang. „Um für die Herausforderungen und das gesellschaftliche und teilweise auch internationale Parkett fit zu sein, absolvierten wir Knigge-Seminare.“ Fasziniert davon, ließ sie sich zur Ausbilderin zertifizieren. Mit Montessori-Schülern ist das Buch „Knigge für Kids“ entstanden (Bestellungen: montessori@stuttgart.de).