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DER KÖRPER ALS LEINWAND

Eine Katze spitzelt aus dem Hosenbund einer Chinesin heraus. Knapp unterm Bauchnabel. Einer anderen Frau wächst eine Blumengirlande aus der Hose. Katze und Blumen hat die Künstlerin Shi Halei mit Farbe in deren Haut gestochen. Wer genau hin schaut, entdeckt eine lange Narbe in den Kunstwerken. Seit zwei Jahren kaschiert Shi Halei Kaiserschnittnarben von Chinesinnen. Zwischen 2004 und 2008 wurde laut Weltgesundheitsorganisation fast die Hälfte aller chinesischen Kinder per Kaiserschnitt geholt. Doch die Mütter leiden oft an ihrer Narbe… Und lassen sich auf etwas anderes Ewiges ein. Inspiriert dazu wurde Halei von der südamerikanischen Künstlerin Flavia Carvalho, die um Narben von Opfern häuslicher Gewalt herum tätowiert. Andy Engel, gelernter Gas- und Wasserinstallateur aus dem fränkischen Kitzingen, sticht dagegen Brustwarzen: „Wenn man fotorealistische Portraits tätowieren kann, müsste man Frauen nach einer Brustkrebs-OP auch deren Brustwarze in 3D-Optik nachbilden können“, dachte er sich ursprünglich. Kliniken schicken nun ihre Patientinnen zur medizinischen „Brustwarzen (Re-) Konstruktion“.

Die Rubrik „Gefühlte Wahrheit“ der Süddeutschen Zeitung hat kürzlich offenbart: Menschen mit den furchterregendsten Tätowierungen spielen zu etwa fünf Prozent in Punkbands, etwa acht treffen sich bei Tattoo-Conventions, zehn sind Mitglied einer Motorrad-Gang – und 40 Prozent sitzen am Rand der Kinderbecken im Schwimmbad. Lange wurden Tätowierte Problem-Randgruppen zugeordnet: Alkis, Knastis, Junkies. Und dann kam Bettina Wulff, Ex-Bundespräsidenten-First-Lady, die auf einer Mexikoreise ihr Oberarm-Tribal offenbarte… Oder veränderte Angelina Jolie das Image, die 2003 nach Thailand reiste, um sich von buddhistischen Mönchen ein magisches „ha taew“, aufs Schulterblatt stechen zu lassen? Oder waren es die Fußballer, die mittlerweile den Rasen nur noch mit dem Portrait der Mama, einem gestochenen Champions League Pokal oder der eigenen Torjubelszene betreten? Vielleicht war’s auch Johnny Depp, der verkündete: „My body is my journal and my tattoos are my story”. Oder der US-Amerikaner Ed Hardy, der nach seinem Drucktechnikstudium in den 70ern vom japanischen Tätowier-Meister Hori Hide lernte und das Tattoo von seinem Tabu befreien wollte. Mit bunten, Rosen umrankten Totenköpfen. Der heute als Designer-Proll Verspottete sagte damals: „Ein Tattoo verletzt keine Dritten, es ist eine sehr persönliche Sache. Also sollte jeder eines haben können.“ Seine Motive übertrug er geschäftstüchtig auf Shirts und Taschen.

Dabei schmückten schon brasilianische Ureinwohner ihre Körper mit Zeichnungen, genauso die mexikanischen Maya. Und bevor die Europäer nach Neuseeland kamen, trugen indigene Maori „Moko“. Die Männer auf Schenkeln, Rücken, Hintern oder im Gesicht; Frauen auf Lippen oder Kinn. So war nicht nur Rang und Herkunft klar, sondern auch, dass sie erwachsen waren. Attraktiv. Mit Punkten und Strichen wurden Moko in die Haut gekratzt und geschabt und vernarbten. Die Pigmente gaben die Maori in Schmuckkästchen an ihre Kinder weiter. In den Musketen-Kriegen mussten tätowierte Schädel von Maori-Kriegern sogar als Zahlungsmittel für Schusswaffen herhalten. In Kambodscha, Laos und Thailand sollen die heiligen „sak yant“ mit ihren  komplexen Mustern, Schriftzeichen oder Tempelspitzen Stärke, Glück und Schutz verleihen. Auch vor Gewehrkugeln. Die buddhistischen Mönche, die manchmal noch per Bambusstab und Mantras rezitierend stechen, mixen in ihre Farbe gerne mal Gallenflüssigkeit des Feindes, zermahlene Haut eines Mönchs oder anderen magische Substanzen. Da stehen Europäer und Amerikaner drauf. Das thailändische Kulturministerium kritisiert nun auf seiner Internetseite, diese Mode-Accessoires untergraben den Respekt vor der Religion. Und ob die Touristen wirklich alle fünf Sittlichkeitsregeln einhalten? Nicht töten, nicht stehlen, kein sexuelles Fehlverhalten, nicht lügen, keine Drogen? Und jeden März das Tattoo beim „Lehrer-ehren-Fest“ aufladen, wo Tätowierte in Ekstase geraten und sich wie Raubtiere gebärden?

Ötzi aus dem Eis hatte 61 Tattoos.

In Europa, da war der Ötzi seiner Zeit 5000 Jahre voraus. 61 Motive zählten Forscher auf seiner Haut, als sie die Eisschicht des im Gletscher der Südtiroler Alpen entdeckten Mumienmenschen weggetaut hatten. Und dann all die bunten Seeleute! Während sie Monate draußen auf See waren, verwandelten sie ihre Körper zu Tagebüchern. Bereits im Mittelalter. Ein Herz erinnerte an die Liebste, die ihm Heimathafen wartete, der Anker stand für die wohlbehaltene Wiederkehr, das große Segelschiff für die persönliche Lebensfahrt – mal stürmisch, mal ruhig. Das kleine wurde tätowiert, nachdem ein Matrose Kap Horn umschifft hatte, die Schlange erzählte von prickelnder Sünde und Versuchung. Ein kleiner Drache zeigte, dass der Träger nach China gelangt war, ein goldener, dass er die Datumsgrenze überquert hatte und eine Schildkröte, dass es der Äquator war. Eines der beliebtesten Motive des 19. Jahrhunderts: das Pin-Up-Girl.

In Deutschland ist jeder Zweite tätowiert.

Heute? Bewegen sich Tattoos in der westlichen Welt zwischen Ausdruck von Individualität, Statement und modischem Mainstream-Accessoire. Der Hype ist größer denn je. Selbst die Bankangestellte trägt unter ihrer Bluse einen Löwen im angesagten Aquarell-Stil. Auf Festivals wird nebenbei zugestochen; War doch nett, warum nicht das Veranstaltungslogo  mitnehmen? In Deutschland ist jeder Zweite tätowiert, von den 16- bis 29-Jährigen fast jeder Vierte. Oft dehnt sich die künstlerische Lebendfläche auf die Größe eines Din A5-Blattes aus.

Den Körper zur Leinwand verwandeln, die Nacktheit mit Bildern zuwachsen zu lassen: in der Masse angekommen. Nicht mehr die Silhouette des Körpers wird geformt mit Schulterpolstern oder ausladenden Unterröcken, der Körper selbst wird gestaltet. Kann man sich als wandelndes Gemälde noch nackt fühlen? Haben wir Angst vor dem Nacktsein? Nachdem wir uns das letzte Haar entfernen lassen haben. Fühlen wir uns schutzlos? Die Deutschen gelten als Fans Freier Körperkultur. Überall tätowierte Kulturbegeisterte? Der Zeit-Journalist Peter Kümmel fand die Antwort auf die Inflation von Ganzkörper-Tattoos in der Biologie: „Ein Lebewesen bildet auf seinem Äußeren Zeichen aus, welche die Fressfeinde davor warnen sollen, sich zu nähern“ – ein Ganzkörpertätowierter wolle halt seine inneren Organe schützen. Zudem lenke „das Motivgeschlinge auf dem Leib vom verborgenen Inneren ab“. Und Lisa wird nicht mehr verwechselt, wenn sie eine Herde Einhörner mit sich herumschleppt. Wie Andrea, Steffi und Leonie… Wo sind eigentlich all die Arschgeweihe und chinesischen Zeichen hin, die Must-haves der Nuller-Jahre? Weggelasert, verblasst stecken sie in der Haut. 

Häftlinge machten sich Tattoo-Farbe aus Ruß und Ziegelstaub.

Von den 50ern bis in die 80er hinein erlebte die Tätowier-Kultur in Gefängnissen eine Hoch-Zeit. Weil Tattoos verboten waren, mixten die Häftlinge Ruß, Schuhcreme und Zigarettenasche zu schwarzer Paste, kratzten Ziegelstaub von den Wänden für rote. Sie rührten sie mit Wasser, Shampoo oder Urin an und ritzten die Paste mit Büroklammern, Draht oder angespitzten Gitarrenseiten in die Haut. Oder befestigten eine Nadel am Elektrorasierer. Einige Gefangene erkrankten an Syphilis, AIDS oder Tetanus. 

Für die Inhaftierten war der Körperschmuck wichtig, über ihren Körper konnten sie noch selbst verfügen. Der Wiener Fotograf Klaus Pichler portraitierte 150 tätowierte Häftlinge. Einer sagte: „Der Schmerz beim Tätowieren, der reißt einen aus der Monotonie und dem Trott. Man spürt sich selbst wieder und empfindet etwas Intensives. Nicht nur beim Stechen, auch hinterher, das ist ja eine Wunde, die verheilt.“ Der Motivschatz im Knast war eine Sammlung von Geheimzeichen, die Zugehörigkeit besiegelten und nur für Eingeweihte lesbar waren. Drei schwarze, schlichte Punkte auf dem Hautlappen zwischen Daumen und Zeigefinger – Symbole dreier Affen – bedeuteten:  Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts. Verhör zwecklos. Dolch durch den Hals: Hat jemand im Knast umgebracht, bereit für Auftragsmorde. Anzahl der Blutstropfen: Anzahl Umgebrachter. Totenkopf und Knochen auf den Schultern: lebenslange Haft. Mädchen, das sein Kleid mit einer Angelschnur fängt: Vergewaltiger. Am Kreuz verbrennende Frau: Mord an einer Frau. In Hochsicherheitsgefängnissen waren bis zu 98 Prozent tätowiert, die Anführer verriet nur ein Stern am Schlüsselbein. Wer wegen politischen Delikten saß, bekam kein Tattoo. Tätowierungen waren für Gefangene auch „ehrenhafte Selbststigmatisierung“. Denn, danach, draußen, verzichteten sie so auf eine bürgerliche Existenz und gingen das Risiko ein, keinen Job zu finden. Heute geht man auch in Japan bei Tätowierten auf Abstand, denn die Angehörigen der japanischen Mafia, die Yakuza, sind tätowiert. Und zwar so ausgiebig, dass es aussieht, als trügen sie einen Kimono. Sie sollen aus der Öffentlichkeit verdrängt werden, dürfen nicht in Fitnessstudios und Bäder.  

Die Kritzelei der Kinder auf der Haut.

In Deutschland entwickelt sich gerade die Tattoo-Szene in alle Richtungen. Angesagt sind etwa das Motiv der Freiheit symbolisierenden Indianerin im „nativ-american style“ und geometrische Formen, ein Diamant oder abstrahierter Tierkopf. Auch meditativ wirkende Mandala oder Bewegung suggerierende Illusions-Tattoos gehen gut; oder Totenköpfe mit Blumenkranz wie in der mexikanischen Kultur verankert. Beim anderen darf’s wiederum ein tätowierter Muffin im Comic Stil sein oder – der Trend schlechthin: die Kritzelei des eigenen Kindes. Seit zehn Jahren sind Zitate und Schriftzüge begehrt. Aber Achtung vor Schreibfehlern. David Beckham trägt für immer seine Frau „Vihctoria“ mit sich herum. Alles geht heute – nur keine chinesischen Zeichen oder Sternzeichen mehr, wird in Internetforen gewarnt. Es geht aber sogar die KZ-Nummer des Großvaters auf dem Arm, wie es einzelne Israelis als Ausdruck der Verbundenheit machen. 

Und es geht, dass eine 81 Jahre alte Engländerin „Do not resuscitate“ auf ihre Brust tätowieren lässt. Nur für den Fall, dass sie jemand wiederbeleben will. 

 

Info:

Risikoforscher diskutieren, ob Tattoos der Gesundheit schaden. Einig sind sie sich, dass viele Farben mit Schwermetallen verunreinigt sind. Manche werden von Firmen hergestellt, die Autolacke oder Druckerpatronen produzieren. Ein aktueller Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Europäischen Kommission sagt: In 99 Prozent der Fälle bleibt die Farbe nicht komplett in der gewünschten Hautschicht. Pigmente werden von Fresszellen des Immunsystems verspeist und zu den Lymphknoten gebracht. Grünes Tattoo: ziemlich grüner Lymphknoten. Uneinig sind sie sich mangels Langzeiterfahrung, ob durchs Lasern krebserregende aromatische Amine entstehen.