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NACKTTOUR IN DER NATUR

Heute ist ein Tag zum Ausziehen; zum einen aus der überhitzten Großstadt München, zum anderen aus den Klamotten. Um die dreißig Grad. Da lockt das Paradies. Und das liegt vor den Toren Münchens, im Süden, bei Schäftlarn am Isarkanal, am Ickinger Eisweiher, bei Geretsried. Wie Gott sie schuf – ohne einen Fetzen Stoff auf der Haut (Ausnahmen: Rucksack und Schuhe), ohne Feigen- oder Kastanienblatt – will an diesem Tag die Münchner Isar-Nacktsport-Gruppe hier wandern. Alles andere als feige sind die Freunde der faserfreien Art, wie sie sich nennen.

Auch das erste Liebespaar auf Erden, Adam und seine Eva, waren splitterfasernackt im Paradies unterwegs. Bis sie den Apfel aßen und von Gott daraus vertrieben wurden. Doch so konnten sie unmöglich vor die Gartentür: „Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie“, heißt es in der Bibel. Später strömten ihre gottesfürchtigen Nachkommen in die Welt hinaus, nannten sich christliche Missionare und verpassten manchen Naturvölkern nicht nur eine neue Moral sondern auch BH, Korsett und Höschen. Die Freiheit wartet dann im Himmel oben, so das Versprechen. 

Rudi Scheiner, 70, startet mit seiner Gruppe bei Schäftlarn den Isarkanal entlang: „Wir bleiben noch ein bisschen angezogen.“ Zu viele Leute überall, provozieren wollen sie nicht. Normalerweise wählen sie Trampelpfade, Wanderwege abseits der Hauptstrecke, einsame Täler… Zuweilen radeln sie nackt, rudern oder treffen sich zum Nacktyoga, das ein Arzt, der ebenso Naturismus-Fan ist, anbietet. 

Aber heute? Scheiner schüttelt den Kopf, wer hätte damit gerechnet? An einem Freitag? Die erste Etappe ist zum Wiesn-Gaudi-Aufwärm-Kanal mutiert. „Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen“, schallt es von einem Baumstammfloß. Auf dem folgenden fahren sogar ziemlich viele Mädchen mit – Liveband, junge Leute prosten sich zu, sonnen sich oder springen ins Wasser, dann ein mehrstimmiges „ein Prooosit, ein Prooosit, der Gemüüütlichkeit.“ Gefällt den angezogenen Nackten gar nicht. „Furchtbar“, grummelt Scheiner. „So schlimm war das früher nicht, dass die jetzt schon im Abstand von 200 Metern kommen.“ Die Partymeile erstreckt sich von Wolfratshausen  nach Thalkirchen.

Affenlaute vom Floß

Die Konkurrenzsituation an diesem Julitag ist klar: Die einen wollen feiern, die anderen sich ausziehen. Und dann tut es die Nacktsport-Gruppe einfach. Hose runter, Wurst jetzt. Die Feiernden glotzen rüber, dann Lachen, Fingerzeige. Gejohle. Scheiner zum 72-jährigen Rolf Massa: „Jetzt haben sie gerade über dich geredet…“ Doch sie laufen stoisch weiter, halten sich jedoch, ganz zufällig, Handtuch oder Rucksack vor die Geschlechtsteile, wenn ein Floß naht oder jetzt, als eine Frau entgegen kommt und genant wegguckt. Von der anderen Isarseite ruft ein Mann kurz darauf: „Bald gibt’s Rentenerhöhung, dann könnt ihr euch eine Hose kaufen!“ Er lacht röchelnd über seinen Witz. Rudi Scheiner: „Ja danke, machen wir!“ Solche Witze sind ok. Manchmal bekommen sie Affenlaute ab, das finden sie daneben. 

Kürzlich habe er einen „Disput“ mit einer Radlerin gehabt, erzählt er. Sie schimpfte ihn einen unanständigen Exhibitionisten. Er konterte: „Nur weil ich nackt gehe, bin ich keiner.“ Die Frau: „Denken sie doch Mal an die Kinder hier!“ Scheiner versteht das nicht. Kann der Anblick eines nackten Mannes Kinder gefährden? Sein achtjähriger Enkel geht gerne auf Nackttouren mit.

Wo liegen die Grenzen zwischen Nudismus und Exhibitionismus? Nudismus bedeutet Freikörperkultur, Nudisten halten sich gerne nackt im öffentlichen Raum auf. Ohne sexuelle Hintergedanken. Exhibitionisten erregt es, die eigenen Genitalien in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nö, da zählen sie sich weiß Gott nicht dazu. 

Wer sich nackt zeigt, zeigt sich verletzlich.

Allein im brasilianischen Amazonas leben hunderte Stämme nackt. Wobei sie sich oft gar nicht nackt vorkommen. Einige Männer erst dann, wenn ihre aus Palmfasern gezwirnte Schnur reißt, mit der sie sich den Penis an den Bauch binden, aus Angst vor Parasiten und zu Gunsten der Bewegungsfreiheit. In vielen Kulturen hat Nacktsein einen negativen Beigeschmack, vor allem dort, wo es kalte Jahreszeiten gibt. Gleichzeitig aber gehören Saunen in Skandinavien und Russland zum Kulturgut. In arabischen Ländern packt man sich ausgiebig ein, aber in den Hamam-Badehäusern aus. Auch 30,6 Millionen Deutsche trauen sich laut des Sauna-Bundes  mittlerweile regelmäßig zum Entspannen und Immunsystem-Stärken in die Sauna. Wer öffentlich nackt ist, zeigt sich mehr als nur entblößt. Eine Person macht sich verletzlich – gerade in einer Gesellschaft, die den perfekten, ewig jungen Körper feiert. Der Frauenanteil in der Isar-Nacktsport-Gruppe liegt bei zehn Prozent. Scheiner: „Frauen sind da kritischer gegenüber sich selbst. Dabei sind bei uns auch Dickere dabei, völlig egal.“ 

Der Mensch kommt nackt auf die Welt. Mit dem ersten Schrei ist er also nichts ahnend schon der Sünde anheim gefallen. Rolf Massa sagt: „Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seinen Körper für eine notdürftig verpackte Schweinerei hält.“ Er wandert seit Jahren nackt durch die Natur. „Es ist schön, den ganzen Körper zu fühlen. Die Sonne auf der Haut, im Wald die plötzliche Kühle, jedes Lüftchen… Die Haut ist das größte Sinnesorgan.“ Der studierte Elektrotechniker stammt aus Riedlingen und hat sich dem Verein, den es seit 2005 gibt, vor fünf Jahren angeschlossen. „Davor bin ich immer auf eigene Faust los, habe mir abgelegene Strecken gesucht. Wenn ich Wanderer hörte, zog ich mir geschwind eine Nothose an.“ Er kann sich vorstellen, dass der Auszieh-Drang mit seiner Erziehung zu tun hat. „Die war extrem prüde. Lehrerhaushalt. Vater Oberstudienrat. Da gab’s kein Geschlechtsteil zwischen Bauchnabel und Knien. Das war alles ,uhhhhhhh’! Mag sein, dass ich das überkompensiert habe.“ Er lacht. 

 Peinlich: die weiße Badehose

Da kamen die 68er genau richtig? „Nein“, sagt Massa. „Bei mir hat’s in den 80ern angefangen. Beim Schwitzen auf Bergtouren habe ich mir gedacht, warum nur Hemd und nicht Mal Hose ausziehen?“ Seine Nackttouren verschwieg er zunächst im Bekanntenkreis und gesteht: „Ich kam mir wie ein Sonderling vor, bis ich im Internet auf viele Naturisten-Gruppen stieß.“ Rudi Scheiner hatte sein Erweckungserlebnis zur  selben Zeit auf Sylt. Er verirrte sich in ein FKK-Bad. „Alle waren braun vom Scheitel bis zur Sohle. Mir war das unangenehm mit meiner ,weißen’ Badehose.“ Der Abdruck outete ihn und er wollte sich aus Peinlichkeit verstecken. „Da habe ich gemerkt, Nacktsein tut gar nicht weh. Seitdem bade ich, wo es geht, nackt.“ Massa pflichtet ihm bei: „Wozu eine Badehose, wenn’s warm ist? Nur damit niemand das Pimmelchen sieht?“ 

Die Nacktsportler finden, Nacktsein sollte bei „Freizeitaktivitäten etwas Normales sein“. Es sei nicht nur praktisch beim Sport sondern auch ein „Akt „seelischer Befreiung“. Konfession, sexuelle Prägungen, geistige Fixierung und politische Ausrichtungen spielten keine Rolle. „Toleranz gegenüber Andersdenkenden sollte geübt werden, sogar gegenüber Bekleideten.“ Als Nackte fühlten sie sich als gesellschaftliche Randgruppe, „die sich wünscht von einer bekleideten Mehrheit toleriert zu werden“.

Entlang der Isar sei die Toleranz der Landbevölkerung tatsächlich hoch, vielleicht sogar höher als in München selbst, schätzt Scheiner. Hier sind nackte Sportler und Badende kein Naturereignis – außer für die fremden Floßfahrer. Im Norden Münchens, am Feringasee, wurden aber vor Kurzem Nackte von der Polizei angewiesen sich anzukleiden, obwohl sie dort Jahrzehnte lang toleriert worden waren. Die Nudisten-Szene empörte sich. Rudi Scheiner war früher selbst Polizist. 

Er ärgert sich dagegen über die sich „sexuell Vergnügenden“. An der Isar, bei Geretsried, würden regelmäßig welche gesichtet. „Die machen unseren Ruf kaputt. Wenn der Ottonormalverbraucher das Treiben sieht, denkt er: Schau an, die Nackten, wie sie sich aufführen. Dass wir das auch nicht akzeptieren, wissen die nicht. Nackt heißt hemmungslos.“

Hemmungslos betrieben dann wohl auch die alten Griechen Gymnastik. Für Nacktsein und Sporttreiben gab es nur ein Wort: Gymnós. In der Münchner Pinakothek bewundern Besucher deren Körper. Die Griechen waren überzeugt davon, Nacktheit brächte sie näher zu Gott und auch im Hinduismus lehnten manche Gruppierungen Kleidung ab. Die Römer fletzten sich nackig in ihren Thermen, erst die jüdischen und mitteleuropäischen Einflüsse ließen sie Nacktheit mit Sklaverei, Armut oder Primitivität assoziieren. In der Kunst gab es drei Arten der Darstellung: die natürliche Nacktheit bei der Geburt; das Entsagen von weltlichen Dingen, weshalb Heilige oft halb entkleidet gezeigt wurden; und als sinnliche Begierde, Sünde: meist verbildlicht durch Hölle oder Letztes Gericht. Mit der Renaissance – der Wieder-„Geburt“ der Antike – war Nacktheit wieder ästhetisch, Akte wurden beliebt und Schönheitsideale definiert. Gerade die Deutschen belebten Anfang des 20. Jahrhunderts die Nacktbadekultur und gründeten Vereine. Sie rauchten und tranken nicht und wollten so die Naturverbundenheit intensivieren. Es hieß: Kleidung kappe den Menschen von der Natur ab, schwäche seine Widerstandskraft, führe zur Verweichlichung. Nacktheit aber baue Prüderie ab, ohne dass der Sexualtrieb stimuliert werde.

„Die Frau trägt den Badeanzug richtig, wenn sie ihn in der Hand trägt.“

Und wenn eine junge Frau zu den Isar-Nackt-Sportlern stößt? Scheiner sagt: „Sexuelle Bedürfnisse hat man da gar nicht.“ Man schaut kurz am Anfang Mal, „aber das hört ganz schnell auf. Wir sehen den Menschen, nicht sein Äußeres. Selbst wenn eine dabei wäre mit einer Figur wie Sofia Loren. Wenn eine Frau rasiert ist, könnte man denken, die ist vielleicht aufgeschlossener. Aber so denkt bei uns keiner.“

Hitler hatte mit Nacktheit die „rassistisch, gesundheitliche und sittliche Hebung der Volkskraft“ im Sinn und wetterte: „Wir haben aus einer Nation von gebrillten Stubenhockern eine Sportnation gemacht, wir haben bleichsüchtige und schwärmerische höhere Töchter durch braungebrannte und sportgestählte Mädchen ersetzt…“. Im Nachkriegs-Deutschland wurde der nackte Körper maximal in der Badewanne gezeigt. Oder im Schlafzimmer. Das änderte sich mit den 60ern und dem Slogan: „Eine Frau trägt ihren Badeanzug richtig, wenn sie ihn in der Hand trägt.“ Aber nicht im eigenen Land. Als erstes Reiseunternehmen bot die Münchner Firma Isaria FKK-Reisen an. 1980 konstatierte die Fachzeitschrift „Fremdenverkehr“, die Einstellung der Bundesdeutschen habe sich geändert. Ein Drittel sei bereit, unbekleidet zu baden. In der DDR war FKK längst selbstverständlich. Heute bieten vermehrt große Thermen Nacktbadetage an, zudem gibt es FKK-Clubs. Rudi Scheiner: „Da sollte man gleich Bumsclub sagen, das wäre immerhin zutreffend.“ 

Badehose erschien vom Aussterben „bedroht“.

Die Isar-Nackt-Sportler denken wehmütig an die 80er. „Da gab’s so viele Nackte, dass ich gedacht habe, jetzt dauert’s ein paar Jahre, dann ist die Badehose ausgestorben“, sagt Scheiner. Im Englischen Garten stürzten sich die „Nackerten“ aus Protest gegen das Establishment in den Eisbach, ließen sich ein Stück treiben und fuhren mit der Straßenbahn wieder zurück. „Die Leute beschwerten sich, weil die Sitze immer so nass waren.“ Heute bedauert das Tourismusamt die tote Hose auf der ausgewiesenen Nacktbadewiese. Eine Handvoll Rentner… Dabei steht doch die Attraktion in jedem Touri-Führer! Doch wer will angegafft und fotografiert werden? Die Ausgezogenen sind umgezogen an die Isar, auch weil sie sich da in die Fluten stürzen dürfen, ohne sich erst eine Badehose überstreifen zu müssen, wie mittlerweile am Eiskanal. An der Isar herrscht noch Münchner Freiheit. 

 

Info:

2014 wurde in Bayern das Nacktbadeverbot abgeschafft. Aber es gibt den Paragrafen 118 des Ordnungswidrigkeitengesetzes. Er greift, wenn sich jemand belästigt fühlt, ob am Badesee oder  etwa, wenn jemand nackt durch die Innenstadt läuft. Der Paragraf ist sehr dehnbar und die Gemeinden entscheiden selbst, was sie wo anstößig finden. Vor dem Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg landete der Fall eines Nackt-Joggers, der sich einen Nylonstrumpf über sein intimsten Körperteil gestülpt hatte, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Doch die Richter sahen das anders und ließen ihn ein Bußgeld von damals 4000 Mark zahlen. Auch das Nacktradeln anlässlich des Weltnacktradeltages wurde gerichtlich untersagt. Und der nackte Derby-Flitzer beim Spiel FC Augsburg gegen FC Bayern 2011 bekam ein dreijähriges Stadionverbot und musste 3000 Euro Buße zahlen.