HURENSOHN
Hurensohn – ein Schimpfwort, Herr Bijnens?
Für mich ist das nie ein Schimpfwort gewesen, ging auch nicht. Es stimmt ja, ich bin Sohn einer Hure. Bisher hat mich aber auch nur mein Vater so genannt. Er war besoffen
Sie haben eine bewegte Kindheit hinter sich. Die Mutter verließ mit Ihnen und Ihrem kleinen Bruder den Vater, der trank und ihr verfallen war. Sie wohnten bei ihren wechselnden Liebhabern – die finanzierten die Familie. Als Sie 15 waren, gab ihre Mutter ihren neuen Job bekannt, mit dem sie für ihre Kinder sorgen könne und der ihr Spaß mache. Wie war das?
Ich hatte eigentlich keine Vorstellung davon, was das hieß. Ich hoffte aber, das die Armut endlich vorbei ginge und erinnere mich, dass ich eine Viertelstunde später anfing zu fantasieren, was ich mit dem Geld, das sie verdienen würde, kaufen könnte. Einen Fernseher, ein Rad… Was natürlich nicht der Fall war. Ich fand ihr Leben schon immer schwierig und habe sie oft dafür gehasst. Zuhause war immer diese Armut – sie hatte Schulden, seit sie Anfang zwanzig war. Ständig war sie überspannt, mit ihren Sachen beschäftigt, hatte riesige Probleme, über die sprach sie nicht. Mehrmals wurde sie bedroht, ein albanischer Gangster hielt ihr eine Waffe an den Kopf. Sie begann zu lachen. Wenn aber um drei Uhr nachts die Zigaretten aus waren, ging die Welt unter.
Schämten Sie sich nie für ihren Job?
Nein. Aber es wusste trotzdem nur ein Freund – der hatte eine depressive Mutter. Ich habe nie Freunde nach Hause eingeladen. Mit 15 sucht man ja seine Identität: Ich hatte Talent darin, so zu tun, als sei ich ein Intellektueller. Ich wusste damals schon, dass ich Schriftsteller werden will. So dachte ich immer: Zufällig lebe ich in einer Umgebung, in der niemand weiß, wie man leben muss. Ich stellte mir vor, ich bewegte mich in einem Film oder Buch, in einer fiktiven Geschichte, konnte alles beobachten. Mein Bruder hat sich definitiv geschämt. Er hat aber auch nie die Idee gehabt: Später werde ich das alles erzählen. Er hat das verdrängt. Heute arbeitet er als Bauarbeiter.
Wie lief der Familienalltag ab? Die Mutter hatte ja quasi ständig Nachtschicht…
Wir waren meistens alleine daheim. Vor allem nachts. Das war nicht anders als vorher: Da arbeitete sie in Kneipen oder ging Feiern, in Diskotheken. Wir kümmerten uns selbst um die Schule und aßen im Imbiss. Nachmittags schauten wir TV. Ich glaube, dass es in reichen Familien auch so sein kann. Oder wenn man eine psychotische Mutter hat oder sie verliert. Ich war nicht unglücklicher als Kinder aus beschützten Familien. Schlechte Zähne habe ich heute, ja, wie alle, die in Armut aufwachsen. Ich habe gelitten auf meine Weise. Meine Mutter war unerträglich körperlich, Zuhause lief sie nackt rum. Ihr Körper war auf beeindruckende Weise immer anwesend. Ging sie aufs Klo, ließ sie die Türe auf, weil sie klaustrophobisch war. Vor einer Woche schickte mir sie eine Nachricht mit einem Foto von ihrem Arsch: Sie müsse ins Krankenhaus, er sei entzündet. Scham kennt sie nicht. Wenn sie über ihren Beruf spricht, dann voller Details, die man nicht hören will. Man fühlt und riecht alles, als sei man dabei gewesen. Sie ist superstolz auf ihr Leben und ihren Job, war sich immer sicher, jemand würde mal ein Buch über sie schreiben.
Ist es gar nicht so verwunderlich, dass sie Prostituierte wurde?
Nein, wenn ich jetzt darüber nachdenke nicht. Sie hat eine theatralische Persönlichkeit, muss stets im Mittelpunkt stehen. Ihr Vater hat sie früh verlassen, später kam sie in ein christliches Internat. Sie suchte immer nach Aufmerksamkeit, nach Männern – Erlösern -, die ihr die Probleme abnahmen. Auch mich hat sie in diese Rolle gezwungen. Ich fühlte mich oft verantwortlich für sie. Als ich etwa 13 war, musste ich oft Formulare für sie ausfüllen, weil ich bestimmte Aspekte des Lebens besser verstand. Prostitution war für sie kein schmutziger Beruf, sondern eine kosmische Rolle. Sie fühlte sich wie eine der Heiligen, die vor 5000 Jahren in Tempeln in Mesopotamien arbeiteten, „um Männer glücklich zu machen“. Das ist fast pathologisch bei ihr. Sie hört Stimmen, fühlt sich mit Toten verbunden.
Liegt das auch an Drogen?
Nein, sie war so – teilweise ist das ja auch interessant. Ich habe nicht oft gespürt, dass sie drogiert gewesen wäre. Einmal, als ich klein war, habe ich mal Mini-Tüten Speed gefunden und weggeschmissen. Als sie das merkte, flippte sie aus und kämpfte mit mir. Meine Mutter nahm ab und zu Drogen, aber vor allem Speed, um länger wach zu bleiben, während der Arbeit. Ich glaube, dass ihre paragnostisch-psychotischen Eigenschaften eher mit ihrer traumatisierten Persönlichkeit zu tun hatten.
Sie sah Prostitution also als Befreiung?
Ja, nach ihrem ersten Kunden stürmte sie wohl begeistert aus dem Zimmer und rief: „Wahnsinn, das ist die Lösung!“ Jahre lang hatte sie keinen Orgasmus erlebt, jetzt mehrere. Und dafür bekam sie auch noch 200 Euro und musste nicht verheiratet sein, nicht Wäsche waschen, das Klo putzen, nicht kochen.
Brachte Sie Ihre Freier heim?
Nur die, die Liebhaber wurden – also alle drei Monate einen Neuen. Gerade hat sie einen Polizisten. Sie verliebt sich in die Idee, was der Mann für sie sein kann. Eine Christusfigur. Anfangs finden sie es reizvoll für sie zu sorgen, dann saugt sie deren Energie auf. Parasitäre Beziehungen. Ich kann aber auch die Männer verstehen, habe mich auch in Frauen verliebt, die ich retten wollte. Man fühlt sich wie ein Prinz.
Ist Ihre Mutter männersüchtig?!
Absolut, sie sucht in Männern eine Ersatzfigur für den Vater, den sie nie hatte. Einen Erlöser. Sie sucht dasjenige in Männern, was jemand gar nicht liefern kann.
Kann es auch eine Chance sein so aufzuwachsen?
Ja, ich würde mein Leben nicht zurücksenden wollen. Es war nicht alles einfach, nicht alles schön, aber ich habe viel gelernt. Zum Beispiel, dass ich vieles anders machen werde. Ich will mich nie von jemand abhängig machen. Ich weiß natürlich, dass das nicht geht und auch sein soll. Bis vor ein paar Jahren war ich übertrieben egozentrisch und unabhängig, konnte niemand um Hilfe beten. Ich habe mich gebessert. Ich bin mit viel Freiheit groß geworden und fühle mich heute freier als andere, bin froh, dass nicht wie in anderen Familien Erwartungen auf mir ruhen, wie mein Leben verlaufen soll. Erwartungen sind wichtig, aber ich überlege mir selbst welche. Meine Mutter hat mir nie auf aktive Weise geholfen, mich aber bestärkt, in dem, was ich tue.
Sie träumte davon, jemand schriebe ein Buch über sie. Sie haben’s getan. Der Roman „Cinderella“ ist autobiografisch inspiriert und wurde nach dem Riesenerfolg in Belgien und den Niederlanden nun auch in Deutschland veröffentlicht. Darin übernehmen Sie ein verranztes Bordell gleichen Namens, wie es Ihre Mutter wünscht, werden ihr Zuhälter, um ihr Leben beeinflussen zu können. Sie spielen den Erlöser, lassen sich aber dirigieren. Und schonen sie nicht: Nennen sie hässlich, beschreiben ihre Wangen, die „vor Feuchtigkeit glänzen“ und ihre „klebrigen Achseln vom Sekt von vor zwei Tagen“. Die Bucherwartungen haben sie erfüllt.
Stimmt.
Ein Buch voller Wut. Ein Abreagieren?
Ja. Es war das wichtigste Gefühl in meinen ersten zwanzig Jahren, diese gestresste Wut. Lange dachte ich, ich könne meine Mutter retten. Als ich Cinderella mit 23 angefangen habe zu schreiben, beschloss ich, dass ich das nicht kann. Seitdem ist es einfacher. Sie ist, wie sie ist – wechselt eben alle drei Monate Mann und Job. Ich schrieb das Buch, weil ich ihre Erzählungen vergessen hatte. Ich hatte sie wohl auch verdrängt. Meine alte Mutter habe ich abgelöst durch die Romanfigur.
Ist Sie stolz darauf, Hauptperson des Buches zu sein?
Sie verkauft in der Kneipe und im Bordell mehr Exemplare als ich. Wenn sie jemand begegnet, erzählt sie sofort, ihr Sohne habe ein Buch über sie geschrieben. Auch sie hat sich in die Romanfigur verwandelt, sie identifiziert sich vollkommen mit ihr.
Arbeitet sie noch als Prostituierte?
Seit das Buch raus ist, nicht mehr.
In Cinderella haben Sie die Geschäftsidee „Fairtrade-Prostitution“: Für Freier, die mehr Klarheit über die Herkunft der Frauen haben möchten und eine Lösung für die, die den Job gerne machen? Gelabelt mit einem Fair-Fuck-Zertifikat. Ohnehin leiste eine zufriedene Hure mehr als eine frustrierte. Eine Chance?
Nein, zumindest nicht in dem Milieu, in dem ich unterwegs war. Dort ist Prostitution die sublimierte Form von Vergewaltigung. Die Psychologiestudentin, die sich damit ihr Studium finanziert und dann einen guten Job hat, macht das vielleicht freiwillig. Weiß nicht. Es gibt ja noch private Prostitution, Callgirls, Escorts. Ich kann nicht sagen, ob es Prostitution verboten gehört oder nicht, ob es sie fair gibt. Müsste man dann alle ungesunden Berufe verbieten? Dürfte dann niemand mehr als Schlachter arbeiten? Meist ist es so, dass zwischen bis zu 90 Prozent der Prostituierten drogenabhängig sind. Menschen ohne psychische Probleme nehmen keine Drogen.
Eine Frau arbeitet im „Cinderella“, deren muslimische Brüder sie vergewaltigt haben, bei einer anderen legte sich der Vater, ein Lehrer, regelmäßig mit ins Bett, im Internat Ihrer Mutter nahm der Pfarrer den Kindern die „Beichte“ ab. Ist das typisch?
Das glaube ich. Ich bin 30 bis 40 Prostituierten begegnet, die nicht nur finanzielle Schulden hatten, sondern solche Traumata. Vor meine Mutter das erste Mal Sex mit einem Freier hatte, sagte der: Du bist so eine schöne Frau, ich möchte dich haben. Sie fühlte sich wertgeschätzt.
Und dann binden sich solche Frauen an einen Zuhälter? Das erinnert an das Stockholm-Syndrom: Das Opfer ist in seiner ausweglosen Situation gierig nach der Zuneigung des dafür Verantwortlichen.
Ja, meine Mutter hatte schon Beziehungen mit Zuhältern. Aber auch mit Drogendealern und Waffenverkäufern. Vor zwei Jahren war sie noch immer auf der Flucht vor einem kurdischen Kriminellen. Sie fühlte sich beschützt – wurde aber verprügelt und bedroht.
Hat deren Job Ihr Frauenbild beeinflusst? Sie schreiben davon, wie Männer die Vagina von Prostituierten mit Rasierklingen misshandeln…
Ich habe früher von Männern in meiner Umgebung mitbekommen: Frauen sind hilflose Wesen, es gibt nur zwei Möglichkeiten: Man kann sie ficken oder retten. Heute weiß ich, was Frau-Sein bedeutet, dass man mit ihnen Gespräche haben kann. Wenn ich auf der Straße eine schöne Frau sehe, kann es dennoch sein, dass ich anfange zu fantasieren, wie es wäre, mit ihr Liebe zu treiben, sie nach Hause zu führen, sie irgendwie zu besitzen. Ob ich das gelernt habe, als ich 15 war? Ob es an meiner Biologie liegt, meiner Jugend? Ich bin Macho-Feminist. In einer Kneipe traue ich mich nicht, mit einer tollen Frau zu flirten. Ich habe immer Angst, dass es ein gefährliches Gefühl ist, eine Frau attraktiv zu finden; fühle mich gehemmt; schuldig.
Glauben Sie an die Liebe?
Nein. Ich erlebe sie jeden Tag, seit sechs Jahren. Mit einer wunderschönen Frau habe ich eine wunderschöne Beziehung.
Wollen Sie Familie? Werden Sie Ihren Kindern all das Erlebte erzählen?
Das weiß ich noch nicht. Sollte ich Kinder haben, sage ich ihnen natürlich alles. Man muss Kinder nicht schonen vor der Wirklichkeit. Die Oma ist halt dann ein bisschen komisch drauf, eben eine drogenabhängige Rock’n Roll-Prostituierte.
Info:
Michael Bijnens, 27, autobiografisch inspirierter Roman „Cinderella“ war ein Erfolg in Belgien und den Niederlanden. Darin übernimmt er das Bordell „Cinderella“ und wird Zuhälter seiner Mutter – eigentlich, um sie aus dem Milieu heraus zu holen. Zuhälter war er nie, aber tatsächlich wuchs er als Sohn einer Prostituierten in Antwerpen auf. Er studierte Theaterwissenschaften in Brüssel, lebt heute als Autor in Brüssel und Amsterdam und hat die Liebe gefunden.
Cinderella, Sept. 2017, Atrium-Verlag, 444 Seiten, 25,70 Euro.