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EINE MÄUSEWELT IN OBSTKISTEN ERREICHT KULTSTATUS

Was kann ein Buch? Unterhalten, zum Nachdenken anregen, klüger machen? Den Geist beflügeln? Ermutigen, trösten, zum Selbertun anregen? Entführen? In eine andere Welt? 

Die Bücher, die sich die Niederländerin Karina Schaapman zu Sam und Julia ausgedacht hat, schaffen all das gleichzeitig. Dabei handeln sie lediglich von zwei befreundeten Mäusen – die eine draufgängerisch, die andere schüchtern. Kinder sind verrückt danach und entdecken quietschend unzählige Kleinigkeiten in jeder Szene, alte Menschen mit Demenz blühen auf, wenn sie im Buch Gegenstände sehen, die sie an ihre Kindheit erinnern, fühlen sich beschützt. Karina Schaapman: „Am Samstag war ein aus dem Krankenhaus entlassener Mann da, bei dem nichts mehr zu machen war. Er dankte mir für das Gefühl, das ihm das Buch während des Aufenthalts schenkte.“ Die Mäusehaus-Erfinderin ist 56 Jahre alt, hat dunkle, kurze Haare, mandelförmige Augen, trägt eine schwarze Adidas-Joggingjacke, am Arm ein Blumen-Fisch-Tattoo und auf dem Hals einen Kopf, der  vollgestopft ist mit Fantasie und vielen Geschichten ihres außergewöhnlichen Lebens. 

So einiges davon steckt in geballter Ladung auf und zwischen den Seiten der Bücher. Und in den Obstkisten, in die Karina Schaapman, als sie wegen eines Bandscheibenvorfalls Bewegungsverbot hatte, die Mäuse-Welt hineingebastelt und abfotografiert hat. Aus einer Kiste mit fünf Zimmern erwuchs im Laufe dreier Jahre ein zwei Meter breites und drei Meter hohes Haus mit vielen Treppen und hundert Zimmern, mit Dachboden und Keller, Bücherei, Drogerie und Fabrik. Jeder Raum ein Wimmelbild, der Kinder und Erwachsene Sachen entdecken lässt: Kronkorken, verwandelt zu Backförmchen, Emaille-Kannen, die doch nur aus Papier sind, Mini-Teller, Waschmittel-Packungen, ausgedruckt im Kleinstmaßstab aus dem Internet und zum Karton gefaltet, Bistrostühle aus Sektkorken-Draht, Balkongeländer aus Streichhölzern. Sam und Julia wohnen mit ihren Familien im Mäusehaus. Zu ihnen hat sich Karina Schaapman einfache Geschichten ausgedacht, in denen sie Mäusebabys wickeln, einen Konzertauftritt haben, einkaufen gehen, auf den Rummel oder sich vor einer Ratte verstecken. 

Die Mäuse wurden im Käseland, den Niederlanden, geboren. In  einer Miniwerkstatt im Erdgeschoss eines Amsterdamer Backsteinhäuschens. Vor kurzem hat Karina Schaapman ihre Werkstatt ins Amsterdamer Trendviertel Jordaan verpflanzt. Jetzt sind auch ein Laden mit dabei und ein Büro. Doch davor war es Jahre lang so: Schaute die Schöpferin der Mäuse aus dem Fenster, sah sie den Kanal der Amstel. Wobei… Meist war sie dafür zu versunken ins Basteln. Immer wieder lugten Menschen dagegen durchs Fenster in die Werkstatt. Darin war zum Beispiel die Jahrmarkt-Achterbahn aus dem jüngsten Buch aufgebaut. So eine, wie sie momentan auch auf dem Jahrmarkt mitten in Amsterdams Zentrum vor den alten, holländischen Giebeln hinabsaust. Die der Mäuse fährt aber auf Schienen aus hölzernen Eisstielen, die Wagen sind aus Papier, die Sicherheitsbügel aus Draht, die Räder aus  Knöpfen, die Lichter aus Perlmuttplättchen. 

Die Werkstatt selbst war ein eigener Mikrokosmos. Wie ein kaum enden wollendes Puppenhaus reihten sich auf 65 Quadratmeter Zimmer und Schauplätze der Mäuse. Auch eine komplette Zirkuswelt. Hinter einer Trennwand malte Karinas Ehemann an einer Staffelei, daneben begann schon die Küche: ein kleiner Gang, von dessen Decke Pfannen baumelten, dann einmal abbiegen, ein kleiner Gang, von oben bis unten: Bücher. Auch das Schlafzimmer – eigentlich schläft Karina Schaapman in einem Bücherregal. Wohnzimmer, Fernseher, Couch? Nicht vorhanden. 

Zurzeit arbeitet die Mäusefrau an einem neuen Buch. Es spielt am Hafen. Nächstes Jahr sollen Sam und Julia, wenn es nach ihr geht, ein Museum bekommen. Warum auch nicht? Die beiden sind mittlerweile in den Niederlanden so berühmt wie Prinz Willem-Alexander, dessen drei Töchter mit ihnen aufwuchsen. 2013, zu seiner Krönung, dachte sich Karina Schaapman auf Wunsch der Stadt Amsterdam eine Spezialausgabe aus, in der die Prinzessinnen die Mäuse treffen. Alle Erstklässler und Kinder in Flüchtlingslagern bekamen das Buch. Vier Sam-und-Julia-Bücher gibt es bereits, teils schon übersetzt in 25 Sprachen.

Nichts in der Mäusewelt ist Zufall. Alles hat seine Bedeutung. Zwar müssen die Leser nicht jede kennen, das wäre auch zu heftig für sie. Karina Schaapmans Vergangenheit spiegelt sich an vielen Stellen. Das Fenster etwa, in der Kammer, die Julia und ihre Mutter bewohnen. Es ist mit Brettern verschlagen. Wie das von Karina und ihrer Mutter in ihrer Kammer in Leiden, ab dem Januar 1969. Zu dieser Zeit werfen Kinder Schneebälle an die Scheibe und brüllen, sie sollen zurückgehen „in ihr Land“. Die Mutter war aus Indonesien in die Niederlange emigriert. Nachdem die Scheibe kaputt  gegangen ist, nagelt sie ein Brett davor. Karina Schaapman erinnert sich daran, als in den Niederlanden noch alles Exotische fremd und angsteinflößend war: „Meine Mutter war hübsch, trug Make-up, die anderen Frauen machte das eifersüchtig. Meine Mutter war damals vom Krieg geflohen, isoliert und vermisste ihre Heimat sehr.“ Die beiden schlafen stets zusammen in einem Bett.

Karina Schaapman schrieb eine Autobiografie mit dem Titel „Motherless“. Darin steht, „die Nachbarn sagen, dass wir stinken, aber ich kann nichts riechen.“ Sie will anerkannt werden bei den Mitschülern und schlägt auf deren Anweisung andere Kinder. „Ich finde das gemein, aber ich tue, was sie sagen, weil sie mich zur Belohnung mitspielen lassen.“ Die kleine Familie lebt von Sozialhilfe, einmal kocht die Mutter der kranken, ausgehungerten Tochter eine verletzte Taube vom Balkon. 

Karina besitzt nur ein Buch: das Mäusebuch. „Durch das habe ich die holländische Kultur kennen gelernt.“ Fast fünfzig Jahre später führt das dazu, dass sie zu Nadel und Faden greift und aus einem grauen Frotteestoff Julia und Sam entstehen lässt. Die wilde Julia bekommt die raue Seite – der brave Sam, Kind einer Großfamilie, „der alles hat, was ich wollte, aber nicht die Freiheit, die Julia hat“, die weiche. 

Zurück in die Kindheit: Die Mutter verliebt sich in einen Zirkusdirektor und bald reist die neunjährige Karina mit Zirkus und Jahrmarkt umher. Drei Jahre lang. Für sie eine schöne Zeit. „Jeder kam aus einem anderen Land!“ Dann geht der Zirkus Bankrott, die Mutter erkrankt schwer. Während sie im Krankenhaus ist, lebt Karina ein halbes Jahr lang alleine in der Wohnung. Sie soll bloß nicht zum Vater, einem kriegsgezeichneten Soldaten, der die Familie am Tag von Karinas Geburt sitzen lassen hat. Karina lässt nonstop das Radio laufen, um der Einsamkeit zu trotzen. „Mein dicker Hund wärmte mich im Bett. Ich verwahrloste, die Wohnung auch. Es war die schlimmste Erfahrung überhaupt, dass mir zu der Zeit niemand half.“ 1973 stirbt die Mutter an Darmkrebs. Im Buch stirbt Sams Opa, doch die Familie bewältigt dessen Tod gemeinsam statt einsam. Karina landet beim fremden, holländischen Vater, der sie als seine Nichte Karin ausgibt. Die Leute sollen nicht reden. Im Sportunterricht fragen die Mitschüler, warum sie blaue Flecken hat.

Mit 15 flüchtet sie, lebt ein Jahr lang bei ihrer Lehrerin, dann in einer Pflegefamilie. „Jeder sagte, ich solle über meine Erlebnisse sprechen, in meinem Leben war so viel passiert. Ich konnte nicht, fühlte mich schuldig.“ Es wird nicht ruhiger. Hausbesetzerszene, Drogen, Ladendiebstahl, dann folgt sie dem  holländischen Rockmusiker Herman Brood auf seiner Tournee. In Amsterdam rutscht sie in die Rotlicht-Szene, tritt im Sexclub auf, hat Privatkunden. Irgendwann ist sie nur noch angeekelt, beschließt auszusteigen. 

Man könnte meinen, das Drehbuch ihres Lebens beinhaltete bis dahin bereits ausreichend  Dramaturgie… Aber mit 18 bekommt Karina Schaapman ein Kind und heiratet. Dann drei weitere Kinder. Als eines wegen zu großer Wissenslücken nicht auf die gewünschte, weiterführende Schule darf, prozessiert sie gegen die Stadt Amsterdam. Die Kinder lernen nichts und jeder weiß es? Sie will das Geld erstattet bekommen, das sie in Nachhilfestunden gesteckt hatte. Über ihren Kampf um bessere Schulbildung veröffentlicht sie 2000 ein Buch, was die Amsterdamer Sozialdemokraten dazu motiviert, sie in den Stadtrat zu holen. Ihre Themen werden Bildung und das Aufdecken der kriminellen Rotlicht-Milieu-Strukturen. „In Holland herrscht ein liberales Denken. Doch wir verschließen die Augen vor der Gewalt dort.“ Sie erhält Drohungen. Weil ihre Vergangenheit immer wieder ihre politische Glaubwürdigkeit belastet, schreibt sie „Motherless“ – heute in den Niederlanden Schullektüre. Von 2002 bis 2008 ist sie die berühmteste Lokalpolitikerin, doch der Politikerstress ist enorm, die Ehe zerbricht nach 26 Jahren. Dann der besagte Bandscheibenvorfall. 

Total perplex war Karina Schaapman kürzlich mal wieder. Da bekam sie Spontanbesuch von einem Security-Man. Ihr huschen Tränen in die Augen. „Er hatte die Mäuse auf seinen Arm tätowiert.“  Begegnungen wie diese motivieren sie, immer weiter zu machen. Mittlerweile ist aus Sam und Julia sowieso „Mouse Mansion“, ein Familienbusiness, geworden. Ihre Kinder sind alle involviert, denken sich Puzzles mit Szenen aus den Büchern aus oder Bastel-Sets, mit denen Kinder Inventar aus dem Mäusehaus nachbasteln können. 

Was ist nur aus dem Kind mit der Einwanderermama geworden? Sie schüttelt den Kopf, lacht herzhaft. Niemals hätte sie das gedacht. Sie hatte viel Pech, aber auch viel Glück, sagt sie. Vor allem jetzt. „Es ist ein Luxus. Ich bin da sehr reich beschenkt: Ich habe die Freiheit und kann selbst entscheiden, was ich tun will.“ Das Original-Mäusehaus steht in der Stadtbibliothek in Amsterdam. Es wird kein Eintritt verlangt. So findet es Karina Schaapman gut, jedes Kind kann es bestaunen. Auch ohne Mama.