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„SAUGT AN MEINEN LIPPEN!“

Der Mund ist eine der intimsten Körperöffnungen – und gleichzeitig immer sichtbar. Mitten im Gesicht. Rote, volle Lippen signalisieren nicht nur Jugendlichkeit und Gesundheit, sondern auch eine gute Durchblutung und damit auch: erotische Erregung. Lippen, die auf natürliche Art gerötet sind, weisen angeblich auf eine ebenfalls gut durchblutete Vulva in ähnlichem Farbton hin. Männer schminken sich ihre Lippen nicht. Ihre Erregung sieht anders aus. 

René Koch hat in Berlin ein Lippenstift-Museum aufgebaut und war viele Jahre Chefvisagist verschiedener großer Kosmetikfirmen. Er sagt: „Jede Frau muss begreifen, dass der Lippenstift mehr als ein Farbfklecks im Gesicht ist. Er kann ein Gesamtkunstwerk aus ihr machen.“ Und Coco Chanel sei der Meinung gewesen, jede Frau solle sich jeden Tag so zurecht machen, als ob sie ihrer großen Liebe begegnen werde. Das meist verkaufte Schönheitsprodukt der Welt erlebt gerade ein großes Comeback, bestätigt Koch. Nicht erst seit sich Dita van Teese wieder im Burlesque-Stil mit lasziv geschminkten Lippen auf der Bühne rekelt. 

Ist der Lippenstiftindix weit oben, geht’s in der Wirtschaft bergab.

Koch: „Der Nude-Look ist out. Das Ungeschminkt-Wirken-Wollen mit dezenten Tönen. Jetzt greift man wieder zu Farben.“ Vor allem zu Knallrot, Orangerot und Braunrot. Koch sieht klare Tendenzen zur wirtschaftlichen Lage eines Landes. Der Lippenstiftindex ist immer weit oben, wenn’s bergab geht. „Zur Zeit sind die Zinsen im Keller. Der kleine Luxus macht sich wieder groß.“ Zudem lebten wir im Zeitalter der Selbstdarstellung – was Koch aber nicht negativ bewertet. „Wer angibt, hat mehr vom Leben.“ Amerikanische Wissenschaftler hätten zudem kürzlich fest gestellt: Wer rote Lippen trägt, erhält 7,3 Sekunden Aufmerksamkeit, für rosa oder pinke gibt’s 6,7 Sekunden, für nude-farbene 2,2. „Rosa Lippen ziehen andere Männer an als rote.“

Schon die Eiszeit-Frauen wussten mit ihrem Lippen erotisch zu tricksen: Vor 5000 Jahren malten sie sich in Mesopotamien – dem heutigen Irak – die Lippen mit zermahlenen Halbedelsteinen an. Die ägyptische Nofretete demonstrierte mit ihren roten Lippen ihren königlichen Status und bewahrte das gefärbte Wachs in Schilfrohren auf. Auch die vornehmen Damen asiatischer Hochkulturen grenzten sich mit roter Farbe aus Wachs, Honig und Pigmenten vom Bauernvolk ab. Eine Mixtur aus Gummi Arabicum, Feigenmilch, Eiweiß und zerstampften roten Cochenille-Läusen war es bei Königin Elizabeth I. (1533 bis 1603). Ihr Gesicht puderte sie sich für den ultimativen Kontrast weiß. Eine ihrer Nachfolgerinnen, Elizabeth II, erhielt zu ihrer Krönung 1952 sogar eine eigene Lippenstiftfarbe, „The Balmoral Stick“, in hellem Rot.

„Saugt an meinen Lippen!“

Auf „Natur pur“ stand die russische Zarin Katharina die Große (1729 bis 1796). Sie ordnete ihren Hofdamen an: „Saugt an meinen Lippen!“ Auch kleine Bisse waren angeblich ok, wenn nur der Mund hinterher feuerrot leuchtete. Queen Victoria in England dagegen fürchtete den totalen Sittenverfall durch dekorative Kosmetik und verbot ab 1860 Schminke.

Was für ein Skandal war die erste Präsentation des modernen Lippenstifts auf der Weltausstellung in Amsterdam im Jahr 1883 für die Öffentlichkeit. René Koch erzählt: „Davor gab es ein Döschen mit Lippenbrei, den man mit Pinsel oder Fingern auftrug. Das haben damals aber nur Prostituierte oder Musen der Männer gemacht.“ Der französische Schriftsteller Emile Zola schrieb drei Jahre vorher in seinem Roman: „Sie zog noch mit dem Finger zwei breite Karminstreifen über die Lippen. Der Graf Muffat fühlte seine Verwirrung wachsen. Er fühlte die Verführung durch die Vermengung von Puder und Schminke, ein zügelloses Verlangen nach dieser übermalten Jugend ergriff ihn, nach diesem allzu roten Mund in dem allzu weißen Gesicht, nach diesen vergrößerten, schwarz umränderten Augen, die flammten, wie verzehrt vor Liebe.“ Der französische Impressionist Eduard Manet fand die Szene aus dem Buch so erregend, dass er ein Bild dieser Nana malte – als Beobachter, wie sie halb bekleidet an ihrem Schminktisch steht und ihn entdeckt.

„Stylo d’Amour“ – diesen Namen verpasste die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt dem neuen, in Seidenpapier gewickelten Stift, den sie sehr gerne benutzte. Vulgär aber erschien es den meisten zu dieser Zeit noch, wenn sich Frauen dieses Phallussymbol an den Mund hielten und sich über die Lippen strichen. Deshalb galt Lippenstift lange Zeit als Sünde. Es kam noch hinzu, dass sich nur wenige überhaupt den edlen Stift aus aus Rizinusöl, Hirschtalg und Bienenwachs leisten konnten.

Eine Lippe riskierten die Suffragetten.

Schon immer war der Lippenstift ein Politikum. René Koch sagt: „Eine Lippe riskierten die Frauenrechtlerinnen, die Suffragetten, als sie 1912 mit roten Lippen in New York für ihr Wahlrecht auf die Straße gingen.“ Mutig. Der Lippenstift wurde zum Symbol der Emanzipation. Mag sein, dass auch die Me-too-Debatte den aktuellen Trend befeuert hat. „Kritiker sagen ja manchmal, Frauen sollen sich halt nicht so anmalen, damit sie weniger angemacht würden. Das ist ungerecht und deshalb befreien sich Frauen sozusagen mit roten Lippen auch heute. Nach dem Motto: Wir zeigen unsere Weiblichkeit und bestimmen, wie weit der Betrachter gehen darf.“ 

Mit der Verbreitung des Stummfilms in den 20er Jahren wurde der Lippenstift populärer. Die Kosmetikindustrie boomte während des Zweiten Weltkrieges in den USA. 1939 kreierte die Kosmetikfirma Revlon den berühmten Klassiker „Revlon Red“. Er wurde zur Waffe der Frau ausgerufen, die Farbtöne hießen „Patriot Red“ und „Victory Red“. In Deutschland war das ganz anders. Nationalsozialistische Propagandazeitschriften verhängten einen Bann über den Lippenstift. Schminke allgemein war verpönt. Eine „anständige deutsche Frau“ sollte ungeschminkt sein. Ministerpräsident Churchill in England allerdings war überzeugt davon, rote Frauen-Lippen stärkten die Moral und Widerstandsfähigkeit seines Volkes. 

„Ein Hauch von Lippenstift für die Würde.“

René Koch berichtet, dass man im KZ Ravensbrück vergrabene Lippenstifte gefunden hat. Frauen hatten sie vergraben, um sich heimlich vor anderen Frauen morgens etwas Farbe aufzutragen. Wenn die Wärter kamen und entschieden, wer abtransportiert werden sollte, sahen sie gesünder aus und „durften“ weiter arbeiten. Henriette Schroeder beschreibt in ihrem Buch „Ein Hauch von Lippenstift für die Würde: Weiblichkeit in Zeiten großer Not“, wie Make-up Frauen ein wenig durch schwere Zeiten half.

Der „Volkslippenstift“

Den Durchbruch in Deutschland schaffte der Lippenstift, als nach dem Krieg die Amerikaner die uns heute bekannte, drehbare Variante mitbrachten. Die Sängerin und Schauspieler Hildegard Knef bewarb den „Volkslippenstift“, den es in den 50er Jahren dann für 1,50 Mark gab und schenkte ihn René Koch nach ihrem Film „Die Sünderin“ von 1952. Damit begann seine Sammelleidenschaft.

Männer greifen bisher noch nicht zum Lippenstift – obwohl Koch sagt, sie verwendeten immer öfter Lippenpflege. Komisch eigentlich: Der größte Frauenverführer – Giacomo Casanova – knutschte im Italien des 18. Jahrhunderts die Frauen mit seinen angemalten Lippen.