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DER 82-JÄHRIGE, DER NUR NOCH PUPPENMÖBEL SCHREINERTE

Die Frau klappt den Liegestuhl auf und zu, den Sonnenschirm. Zack! „Hier, neue Kollektion: Glastische! Wie man die jetzt hat, mit Dekoschale drunter. Kann man alles mögliche rein tun.“ Dann nähert sich eine große Hand der Badeabteilung, greift hinein, stößt an Decke und Boden, kommt an einem hölzernen Wasserhahn an. Der ist über einem in Alufolie gekleideten Waschbecken montiert. Die Hand gehört einem etwa 1,80 großen alten Mann mit grauen Haaren. Albin Göbel. „Wasser kommt aber keines“, entschuldigt er sich leise. Das Möbelhaus befindet sich im 500-Einwohner-Dorf Magolsheim auf der Alb. Keine Dauerberieselung aus Lautsprechern, kein aggressives Werben für Wohnen im XXXL-Format; im Gegenteil: Die Wohnwelten erstrecken sich über fünf Etagen in einer Glasvitrine, die im Windfang, dem Quasi-Showroom, eines Hauses steht, in dem Albin Göbel mit der Familie seiner Tochter wohnt. Unterm selben Dach produziert er Mini-Wohnwelten. Für Puppen. Albin Göbel sitzt in Stoffhose und grünem Hemd ab der Drechselmaschine. Seine Hosenträger umspannen den stattlichen Körper. Ohrenschutz braucht er nicht. Ein Holzstab klemmt in einer Halterung und dreht sich. Göbel legt einen Beitel an, eine Furche frisst sich gleichmäßig ins Holz. Die Späne fliegen ins Gesicht. Er braucht Kaffeetassen. Nur noch zwanzig Stück sind da. Er hat Angst davor, dass ihm die Tassen, die Kommoden, die Schränke ausgehen, sagt er.

Es ist die Angst davor, dass ihm die Arbeit ausgeht. Jeder würde sofort sagen, er sucht nach Sinn, er hat Angst vor dem Rentenloch, füllt es mit Geschäftigkeit. Es ist mehr. Es ist wie eine Sucht. Das Ventil, durch das seine Massenproduktion kontinuierlich abfließen kann, darf nicht verstopfen. Seine Tochter verhindert das. Bei Hitze und Kälte stellt sie sich auf Kunsthandwerkermärkte und verkauft seine Minimöbel. „Sonn- und Feiertage sind scheußlich“, sagt Albin Göbel. Rumsitzen, reden, womöglich ist Besuch da. Da wird er hibbelig. Genauso wenig kann er manche Männer im Dorf verstehen. „Ihre Heimat ist das Wirtshaus. Für mich wär’s ein Graus.“ Er schüttelt den Kopf, wird zum ersten Mal lauter. Das alles würde für ihn bedeuten: nicht in die Werkstatt gehen zu können. Wo er den Wechsel zwischen Sitzen und Stehen liebt und über einer Seite aus dem Möbelkatalog zu brüten, zu überlegen, wie er das abgebildete Stück umsetzen könnte; wo er eine Idee braucht, wenn ihm jemand etwas Ausrangiertes vorbeibringt; Er holt eine Schachtel mit Armbanduhren: „Da mach‘ ich Standuhren draus.“ Eine Frau aus dem Dorf brachte ihm Glasscheiben vorbei. Nun sind seine Wohnzimmerschränke mit integrierten Vitrinen der Hit. Genauso die Wohnzimmer-Glastische mit der raffinierten Dekoschale.

„Lieber ne ruhige Pause als pausenlos Unruhe.“

Göbel macht ein paar Schritte zum Schrank und öffnet ihn. In einer Schublade lagern 15 Minischränke, in der nächsten Mini-Einbauküchen, in wieder einer anderen Mini-Stockbetten, Mini-Bügeleisen, Mini-Schwenkabfalleimer… Daneben nochmal ein Schrank. Um acht geht Albin Göbel meist in den Kuhstall, runter ins Erdgeschoss. Seine Werkstatt. Kurz duckt er sich durch den Türrahmen und steht in seinem Reich. Er ist jetzt 80, aber die Türen sind ihm noch zu niedrig. Zwischen Regalen und Decke stecken Bretter und Gardinenstangen. Im Nebenraum sind Kreissäge, Kappsäge, Bandsäge…, in den Gartenhütten hält er Holznachschub bereit. Mittags taucht Albin Göbel oben wieder auf: Tisch decken für die Familie seiner Tochter, gemeinsam essen, manchmal eine Tierdoku gucken. Er wird aufgeregt, wenn er von den klugen Zoo-Bären erzählt, lacht.

Dann taucht er wieder unter. Alles in seiner Werkstatt ist mit Staub überzogen. Auch er selbst. Er hustet. „Holz ist doch gesund.“ Er hustet wieder. Auf der Werkbank stehen eingestaubte Wasserflaschen und eine Nivea Soft Handcrème. Der Garfield-Aufkleber darüber erinnert ihn: „Lieber ne ruhige Pause als pausenlos Unruhe.“ Mini-Kommoden trocknen in Holzzwingen, an der Wand schichten sich die Jahre. Der älteste Kalender ist von 1998. Am Schrank klebt Goggomobil-Werbung, aus dem Radio tönt: „Ich will weiter gehen, so ein Abschied ist noch lange nicht ein Tod. Niemals geht man so ganz, irgendwas bleibt immer hier.“ SWR4, Göbels Lieblingssender. Seine Frau ist vor drei Jahren gestorben. „Wenn sie etwas von mir wollte, stampfte sie mit dem Fuß ein paar Mal auf den Boden.“ Er schaut zur Decke. „Dann bin ich hoch.“

Mit 59 geht Albin Göbel in Rente. „Ich hab’s keine Minute bereut. Keine Minute.“ Als die Firma vor 23 Jahren 80 Mitarbeiter rausschmiss, meldete er sich freiwillig. Als erster. „Ich hatte ja mein Auskommen, mein Haus, meine Arbeit.“ Arbeit zu Hause. Gleichzeitig schwärmt er von seinem Berufsleben. Der gelernte Mühlenbauer arbeitete auf dem Bau, nachdem immer mehr Mühlen dicht machten. Er erzählt von den schönen Jahren auf Montage in Augsburg – Projekt Klinikum – und denen in München – Olympiahalle und U-Bahn. Die Tochter bekam den Vater nur am Wochenende zu sehen. „Mit mir hast dich wenig abgegeben, hast immer am Haus gewerkelt“, sagt sie. „Bist auch groß geworden“, sagt er. Fast pünktlich zur Rente kommen seine Enkelinnen, die Zwillinge, zur Welt. Sie sollen ein Puppenhaus haben. Doch weil allein die Küche – in doppelter Ausführung – mit Utensilien mehrere hundert Euro kostet, denkt sich der Opa: „Stuhl und Tisch müsste ich hinkriegen.“ Und was war mit Depressionen? Albin Göbel lacht. Mit der Rente wird die Partnerschaft bei vielen Menschen zur Herausforderung. 24 Stunden aufeinander hocken. Zum erstem Mal. Ein Urlaub ohne Ende. Zermürbende Momente können auch in anderen Bereichen folgen, die ersten vier Jahre sind gefährlich. So lange, sagen Psychologen, dauert im Schnitt die Umstellungsphase auf den letzten Lebensabschnitt; Es geht um Selbstfindung, neue Aufgaben, Struktur im Alltag. Männer müssen oft mehr kämpfen. Viele definieren sich noch immer über ihre berufliche Rolle. Sie sind anfällig fürs große Loch, fürs Sich-Vernachlässigen. Die Gruppe mit den meisten gelungenen Suiziden: alte Männer. Große Firmen bieten teils Rentenvorbereitungsseminare an. Frauen kommen eher mit der Umstellung klar, Experten glauben, weil sie diese bereits geübt haben. Kinder kriegen, Menopause…

Mit dem Zwillingspuppenhaus fängt also alles an. Albin Göbel entwickelt immer ausgefeiltere Möbel, in Esche, Eiche, Fichte, Pappel, Akazie. Wohnhaus und Puppenhaus quillen über, seine Tochter beginnt, die Möbel zu verkaufen. Über tausend folgen bis heute. Albin Göbel passt gut zum Zeitgeist: Die Do-it-yourself-Szene boomt, die neuen Süchtigen verkaufen ihre Überproduktionen in ihren virtuellen Läden auf Internetmarktplätzen wie „DaWanda“. Göbel interessiert das nicht. Auch wenn er immer wieder dazu gedrängt wird. „Mit dem Internet und so, will ich nix zu tun haben. Und mir langt’s zum Leben.“ Die Leute mögen’s zeitnah. Bloß kein Druck. Die Tochter würde gerne das Verkaufsgebiet Richtung Süden ausweiten, bringt immer wieder einen Auftrag mit. „Ob du einen alten Waschbottich machen kannst?“ Göbel macht eine kleine Handbewegung. „Ja, ja, schauen wir mal.“ Dann setzt er sich wieder an die Drechselbank und startet die Dekoschalen-Produktion für die Glastische. Vor dem Fenster fliegen Schwalben. Auch sie haben Häuschen bekommen. Unter der Dachrinne hängen zwanzig Stück.

Sauteure Designklassiker im Miniformat.

Designklassiker im Miniformat sind heiß begehrt: Alessi, Fritz Hansen und Vitra produzieren erschwingliche Möbel fürs Zweithaus im Haus. Renommierte Sammler und Museen bestellen bei Rogers und Mulvany berühmte Gebäude wie den Buckingham Palace im Maßstab 1:12. Für hunderttausende Euro. Die US-Firma Plan Toys will der Lebenswelt heutiger Kinder gerecht werden: Ihre Niedrigenergie-Puppenhäuser verfügen über Solaranlage, Regenwassertank, Mülltrennsystem und Windrad. Albin Göbel könnte ordentlich verdienen. „Ehrlich gesagt, ich kümmere mich nicht darum.“ 5 bis 20 Euro kosten seine Möbel. 100 bis 300 Euro verdient die Tochter an einem Markttag. „Reich wird man damit nicht“, sagt der Vater. Immer wieder fragen Kunden, wie man so etwas Kleines nur machen kann. Dann verteilt die Tochter Visitenkarten ihres Vaters, die sie gedruckt hat, und lässt an den verschiedenen Hölzern schnuppern.

In Göbels Vorgarten stehen zwei selbst gebaute Puppenhäuser. Eines wird von einem Windrad, so groß wie ein Fahrradreifen, angetrieben und dreht sich. Ab und zu bleiben Kinder und Erwachsene stehen. Oder ein Auto hält spontan. Wer sich traut, klingelt. Die fünfstöckige Puppenhausvilla, mit der alles anfing, steht noch immer im Wohnzimmer der Tochter. Darin dieselbe Schrankwand wie im Wohnzimmer, ein Kachelofen wie im Wohnzimmer. Neben dem Himmelbett: ein Nachttopf. Albin Göbel war der Meinung, den Gang zum Klo vier Stockwerke runter ins Erdgeschoss könne man keiner Puppe zumuten.